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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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dazu ein Heer von Journalisten und Gelehrten aller Fakultäten – ein heillos zerstrittener Haufen, einig in zwei bis drei Fragen, uneins in zwei- bis dreitausend. Doch ein Unternehmen wie diese Enzyklopädie konnte das schlagartig ändern. Nichts einte und stärkte Menschen so sehr wie die Kraft einer Idee, an der sich ihr Glaube entzündete. Die Jünger Jesu waren auch nur einfache Fischer gewesen, und doch hatten sie die ganze Welt erobert, weil sie von einer Botschaft durchdrungen waren. Durfte man da ausschließen, dass ein anderer Glaube in anderen Menschen ähnliche Kräfte freisetzte? Nein, wer das tat, war entweder ein Fanatiker oder ein Narr. Pater Radominsky war keines von beidem.
    »Eine heilige Schrift des irdischen Lebens«, murmelte er leise. »Welch ein kühner Plan!«
    Fasziniert von der Idee, kostete es ihn Mühe, seine Bewunderung zu unterdrücken. Was dieser Diderot da predigte, war das Paradies auf Erden – wahrlich ein Glaube, der Berge versetzen konnte! Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Es war, als würde er einen Blick auf eine schöne Frau erhaschen, die im Begriff stand, sich vor ihm zu entblößen. Radominsky schloss die Augen und griff nach dem Kruzifix auf seiner Brust, um den Heiland zu küssen, während das Blut ihm in die Lenden schoss und das Fleisch sich pulsierend zwischen seinen Schenkeln erhob.
    Diese Anwandlung dauerte nur wenige Sekunden. Dann hatte der Pater sich wieder gefasst. Obwohl in Krakau gebürtig, war das Reich Gottes seine wahre und einzige Heimat, und diese Heimat zu verteidigen sah er sich aufgerufen. Als Jesuit wusste er sehr wohl, dass die Waffen des Geistes gefährlicher waren als alle Gewehre und Kanonen dieser Welt. Mit sicherem Instinkt begriff er: Wenn die Enzyklopädie all die zerstrittenen Geister in Paris, die im Namen der Vernunft Zwietracht und Zweifel säten, zu einer geschlossenen Kampftruppe wider den Glauben einte, konnte das geplante Wörterbuch Kirche und Staat in eine ähnlich schwere Krise stürzen wie zwei Jahrhunderte zuvor der Teufel Martin Luther mit seiner verdammten Reformation. Wissen war Macht, und wer den Menschen Wissen gab, verlieh ihnen Macht über das eigene Leben. Damit würde das Gesetz Gottes außer Kraft gesetzt und zugleich alles, was auf Erden von seiner himmlischen Allmacht zeugte: die Vorherrschaft der katholischen Kirche, das Gottesgnadentum des Königs, die ewige Ordnung der Dinge.
    Die Gebote Gottes auf Erden zu wahren war Aufgabe des Staates, Bestimmung und Zweck der Monarchie. Doch war der französische Staat bereit, diesen Auftrag zu erfüllen? Pater Radominsky war skeptisch. König Ludwig XV., vom Volk »der Vielgeliebte« genannt, war ein nach süßlichem Parfüm und säuerlichen Körpersäften stinkender Lüstling, der, statt den Regierungsgeschäften nachzugehen, nur zwei Vergnügungen kannte, die Liebe und die Jagd – Maria Leszczynska, seine Gemahlin, klagte täglich in der Beichte darüber, und sie übertrieb keineswegs. Der Hof von Versailles war zu einem einzigen gigantischen Lustpark verkommen, in dem ein Fest das andere ablöste.
    Nein, auf diesen König konnte die Kirche nicht bauen. Radominsky setzte sich an den Schreibtisch, nahm einen Bogen Papier und tauchte die Feder in das Tintenfass. In kurzen, klaren Sätzen warnte er Monseigneur Beaumont, den Erzbischof von Paris, vor der heraufziehenden Gefahr, um sich bei dem Generalagenten der französischen Oberhirten jedweder Unterstützung der Kirche zur Bekämpfung dieser Bedrohung zu versichern. Mit seiner schnörkellosen Unterschrift beendete Radominsky den Brief, streute Sand über die Tinte, und noch bevor diese getrocknet war, läutete er nach seinem Diener und befahl ihm, die Kutsche anspannen zu lassen.
    »Nach Versailles!«
    Kurz nach Mittag traf die Equipage am Königssitz ein. Doch statt wie sonst den Hauptpalast anzusteuern, um als Erstes die Königin aufzusuchen, ließ Radominsky den Kutscher nach La Celle abbiegen, einer kleinen Ortschaft, die eine Meile entfernt war. Den Weg dorthin säumte ein Kanal, auf dem zwischen goldfarbenen Gondeln eine Schaluppe vor Anker lag, bereit für eine Vergnügungspartie entlang der Kolonnaden von Rosenstämmen in zartem Rosa und Gelb, die am Ufer blühten und die sich in dem stehenden Wasser widerspiegelten. Dahinter aber, eingerahmt von kunstvoll geformten Arkaden und Bogenlauben, erhob sich auf mehreren Terrassen ein meerschaumweißes Schloss, das mit seinen zahlreichen Türmchen und Erkern an eine

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