Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
als ich das nächste Mal hinsah, stand kein Mensch mehr vor mir, sondern ein Bär.
Aus seinem offenen Maul erklang ein Brüllen, das meine Fenster oder vielleicht sogar mein Trommelfell zum Zerspringen bringen konnte. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und griff mit seiner massigen Pranke nach mir.
Als Tier war er aber nicht so schnell wie als Mensch, und so konnte ich mit einem Satz seinen scharfen Krallen entkommen. Würde ich einen dieser Hiebe abbekommen, wäre ich auf der Stelle tot, also konnte ich mir für mein wendiges Ausweichmanöver nicht lange auf die Schulter klopfen. Stattdessen hastete ich davon, das Messer fest umklammert. Er folgte mir schwerfällig.
Diesen Watschelgang kannte ich. Ein Déjà-vu, so stark, dass ich ins Taumeln geriet. Von genau diesem Vieh hatte ich im Krankenhaus geträumt. Dieser Bärenmensch war auch bei Ruthie gewesen.
Aber klar, hatte sie nicht gesagt, dass sie kommen würden?
Sie? Verdammt. Hoffentlich hingen nicht noch mehr von der Sorte hier herum.
Wieder hieb er mit der Pranke nach mir, und mir wurde klar, dass es ganz egal war, ob es noch mehr davon gab. Wenn ich nicht schleunigst etwas unternahm, würde schon dieser eine hier mir den Garaus machen.
Mir blieb bloß das Messer. Ich packte es noch fester, wartete den nächsten Schlag ab, duckte mich und schnellte dann mit dem Messer nach vorn.
In dem Moment, als die Spitze in ihn eindrang, ging er in Asche auf. Ich wurde mit einer dünnen Schicht bedeckt, der Rest stob wie Staubkörner im Sonnenlicht in die grauschwarze Dunkelheit, bis die Asche schließlich herunterrieselte und den Boden mit einer dicken Schicht bedeckte.
In graue Asche gehüllt stand ich da und wusste nicht so recht, was ich jetzt tun sollte. Eigentlich bestand kein Grund, die Bullen zu rufen. Es war ja nichts mehr übrig, was sich verhaften ließ. Und ich hatte auch keine große Lust, von einem großen nackten Mann zu erzählen, der sich in einen zähnefletschenden Bären verwandelt hatte.
Irgendetwas Seltsames ging hier vor sich, noch seltsamer als sonst so in meinem Leben, und das hieß schon etwas.
Ich warf mir die Klamotten über, verzog das Gesicht bei dem Gefühl von Asche auf meiner Haut. Um ganz sicherzugehen, holte ich meine Waffe aus dem Versteck und schlich mit Pistole und Messer ausgerüstet vorsichtig die Treppe hinunter, um die Nachbarschaft zu inspizieren. Weder Mensch noch Tier lagen auf der Lauer. Offenbar hatten „sie“ heute Nacht nur einen Mörder nach mir geschickt.
Zurück in der Wohnung verriegelte ich die Tür, schnappte mir meinen Laptop und tippte „Berserker“ ein.
„So nannten die alten Wikinger ihre Bärenfellhemden“, las ich im Netz. Da war was dran. „Germanische Krieger, die im Kampf rasend wurden und sich buchstäblich in wilde Tiere verwandelten, zumeist in Wölfe oder Bären.“
Ich lehnte mich zurück, um die Information erst einmal zu verdauen. Mir fiel schwer zu glauben, was ich doch mit eigenen Augen gesehen hatte. Wie sich ein Mann in einen Bären verwandelte und dann zu Asche wurde. Ich zwang mich weiterzulesen.
„Die Berserker galten als unverwundbar, da man sie nur mit reinem Silber töten konnte, welches damals eine Seltenheit war.“
Ich nahm das Messer in die Hand. War dann wohl aus Silber, also gehörte es Jimmy.
Ich musste ihn unbedingt finden. Er schuldete mir ein paar Erklärungen.
Woher kannte der Bärenmensch Jimmys Namen? Und warum hasste er ihn so?
Wie war Jimmy auf die Idee gekommen, dass ich Verwendung für ein massives Silbermesser haben könnte?
Was wollte dieses Monster, und, wenn meine bizarren posttraumatischen Träume wahr waren, auch noch etliche andere, von Ruthie, und was wollten sie auf einmal von mir?
Und die wichtigste Frage von allen: Warum zum Teufel sah ich plötzlich Monster, wenn ich doch bislang immer nur Tatsachen gesehen hatte?
Leider war Jimmy untergetaucht. Aber ich war im Aufspüren von Vermissten große Klasse, das traf sich also gut.
Ich musste unbedingt mit Dick und Doof, ich meine Hammond und Landsdown, reden, um herauszufinden, ob es Neuigkeiten gab.
Zunächst einmal fegte ich die Überreste meines Angreifers zusammen und warf sie in den Müll. Danach wusch ich mir den Kerl regelrecht aus den Haaren. Eine Menge Shampoo hat mich das gekostet.
So gegen neun Uhr hatte ich das Stadtzentrum bereits hinter mir gelassen. Wie die meisten Städte, in denen unterschiedliche ethnische Gruppen zusammenlebten, war auch Milwaukee aufgeteilt;
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