Die Phoenix Chroniken: Blut (German Edition)
ist vielleicht in den Vierzigern. Ihre dunkle Haut scheint noch ohne Falten zu sein, die Haare sind dicht und kurz, aber pechschwarz, ohne eine einzige graue Strähne. Ihre Brüste hängen nicht, an ihren Beinen sind noch keine Krampfadern zu sehen, und die Hände sind von der Arthritis noch nicht knorrig.
Ich habe sie noch nie zuvor so gesehen, nicht auf einem Foto, nicht in einem Traum oder einer Vision. Für mich war sie immer Ruthie – die einzige Mutter, die ich je hatte. Warmherzig, mit knochigen Hüften und fester, aber freundlicher Hand. Doch als ich sie so jung sah, fragte ich mich auf einmal, warum sie wohl niemals verheiratet war. Vielleicht war sie es ja doch, vielleicht ist ihr Mann gestorben oder hat sie verlassen. Eine Seherin zu sein ist nichts für zarte Gemüter. Wenn man die Anführerin des Lichts ist, bleibt einem wenig Raum für irgendetwas anderes als die Föderation und jene, die darum betteln, von ihrer Hand ums Leben gebracht zu werden.
Ihr dünner Arm guckt aus einem holzkohlegrauen Hausanzug hervor, der sie durch die voluminösen Falten, die wie ein Zelt um ihren schlanken Körper fallen, nur noch dünner erscheinen lässt. Dieser Arm ist in einen klinisch weißen Verband gewickelt, ein winziger Blutfleck scheint durchgesickert zu sein.
„Wenn du nicht leiser bist, ruft mein neugieriger Nachbar den Tierschutzbund und erzählt denen eine Geschichte von einem Adler in meinem Garten. Es gab schon genug Storys über merkwürdige Vorkommnisse, davon kann ich wirklich nicht noch mehr brauchen.“
Diese Stimme. Ich wollte aus Sawyers Erinnerung heraus- und direkt auf ihren Schoß kriechen. Als sie starb, war ich zwar verzweifelt gewesen, aber weil sie in meinen Träumen auftauchte, durch meinen Kopf spazierte und mit mir sprach, auch wenn es keine Todesgefahr durch Nephilim anzukündigen gab, hatte ich doch immer das Gefühl gehabt, sie wäre nicht ganz fort gewesen.
Dass ich Ruthie gegen einen flüsternden, lamentierenden Dämon eingetauscht hatte, war ganz so, als würde ich sie noch einmal verlieren. Jedes Mal, wenn ich sie in meinen Erinnerungen oder denen anderer Leute zu sehen bekam, und auch immer, wenn ich ihre Stimme aus Luthers Mund hörte, war mir zum Heulen. Und ich war wirklich nicht gerade nah am Wasser gebaut.
„Es gibt da etwas, das erledigt werden muss.“ Ruthie legt Sawyer ihre dunkle Hand auf den Kopf, er plustert die Federn auf und putzt sich. „Ich würde es ja selbst tun, aber ich habe hier Kinder, die ich nicht allein lassen kann. Außerdem“, unter dem faltigen Gewand hebt sie die Schulter, „bin ich jetzt die Anführerin und darf nicht mehr selbst aufs Schlachtfeld.“
Das waren noch Zeiten . Da der Kampf inzwischen in vollem Gange war, mussten wir alle aufs Schlachtfeld.
Andererseits … schließlich war Ruthie eine Seherin. Was zur Hölle sollte sie auf dem Schlachtfeld? Komisch, dass manche Antworten immer nur weitere Fragen aufwarfen.
„Jemand ist gekommen, um mich zu töten.“ Ruthie sieht zu dem dunklen Haus hinüber, silbriges Mondlicht fällt auf ihr Gesicht. Ist das ein Schatten oder ein Bluterguss auf ihrem Wangenknochen? „Er wollte das Jüngste Gericht herbeiführen.“ Sie zog die Brauen über ihren dunklen Augen zusammen. „Dafür sind wir noch nicht bereit. Jemand weiß, wo ich wohne und wer ich bin. Das darf aber nicht sein. Die einzige Möglichkeit, dass es nicht ist , besteht darin, dass dieser Jemand nicht mehr ist.“ Sie sieht den Adler an. „Verstehst du?“
Sawyer neigt den Kopf, watschelt auf seinen krallenbewehrten Füßen vor und zurück, immerzu vor und zurück.
„Es wird nicht einfach.“ Ruthie seufzt lang und schwermütig. „Das ist es nie.“
Sie greift in ihr Hauskleid und zieht eine Feder heraus. Selbst im Mondlicht, das alle Farben auslöscht und den Garten wie die Szene aus einem Film Noir der Vierzigerjahre erscheinen lässt, leuchtet die Feder.
Sawyer macht wieder ein Geräusch: ein Krächzen oder Kreischen, dann ein unnatürliches Heulen vor Schreck und Schmerz.
„Still jetzt“, flüstert Ruthie und lässt die Feder fallen. „Sei still!“
Die Feder trudelt abwärts, ein leuchtend roter Strich, der auf und ab taumelt und zur einen Hälfte auf Sawyers Vogelfüßen, zur anderen auf dem ebenholzschwarzen Rasenteppich zum Liegen kommt.
Er hebt den Schnabel. Graue Augen sehen in schwarze Augen.
„Du weißt, was du zu tun hast“, sagt Ruthie.
Sawyer nimmt die Feder auf und fliegt zurück in Richtung New
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