Die Phoenix Chroniken: Blut (German Edition)
– oder ist es Sonnenaufgang? Kilometer und Kilometer und Kilometer nur Wüste, Berge in der Ferne, aber keine Straße, kein Telefonmast, und weit und breit kein Anzeichen für ein Haus.
Sawyer wendet sein Gesicht der Sonne zu. Er ist nackt. Die Farben des Himmels ergießen sich wie ein Regenbogen über ihn. Seine Tattoos winden sich, wenn das Licht auf sie fällt.
Es sind noch nicht so viele Tattoos wie heute. Der Wolf pirscht über den Oberarm, der Tiger streift über den Schenkel, zwischen den Beinen windet sich träge die Schlange. Dann blitzt ein Licht auf, so hell, dass nur noch Weiß zu sehen ist, und als es wieder erlischt, steht da, wo eben noch Sawyer stand, ein Tiger.
Ein Schatten legt sich auf das Gesicht der Raubkatze, die weiterhin nach oben starrt und beobachtet, wie der große Vogel vorbeisegelt. Dann folgt sie ihm, trabt mit katzenhafter Anmut, so wunderschön, so gefährlich und so stark.
Es donnert, die Erde bebt. Am Horizont steigt Staub auf. Etwas nähert sich. Doch der Tiger folgt noch immer dem Vogel, der in der Luft wie ein schwarzes V aussieht.
Eine lange, dunkle, bewegliche Wolke taucht auf, aus dem Gewitter wird das Donnern von Hufen. Hundert, nein tausend Bisons rasen auf den einzelnen Tiger zu, der ihnen im Weg steht.
Sie scheinen keine Angst vor der riesigen Katze zu haben, die nicht an diesen Ort gehört. Vielleicht haben sie noch nie zuvor eine gesehen und wissen deshalb nicht genug über sie, um Angst zu haben.
Bevor ihn die Herde zertrampeln kann, dreht der Tiger bei und trabt um sie herum, kauert sich mit peitschendem Schwanz nieder und wartet. Seine graugrünen Augen bleiben auf den braunen, vorbeirasenden Wirbel geheftet, der einem alten Western entsprungen zu sein scheint. Er setzt an und springt einem riesenhaften Bullen mit großen, gebogenen Hörnern und struppiger, verfilzter Halskrause direkt auf den Rücken.
Der Bison bleibt stehen, schnaubt und buckelt. Die anderen weichen aus, galoppieren um sie herum und schaffen es so, Bison und Tiger nicht zu Staub zu zerstampfen.
Sawyer schlägt seine Krallen in das Fell des Tieres, um besseren Halt zu finden, dann beugt er sich vor und reißt ihm den Kehlkopf heraus.
Ich erwarte, dass der Bison stolpert oder Sawyer zu Boden wirft, wo er von den Nachzüglern zertrampelt wird. Überall würde Blut spritzen, und mit ein bisschen Glück könnte das Tier den Tiger ein- oder zweimal aufspießen, bevor es stirbt. Natürlich wird nichts davon Sawyer umbringen, denn in Wirklichkeit ist er noch am Leben und hier unmittelbar neben mir. Aber es wäre blutig, hässlich und verdammt schmerzhaft.
Stattdessen geht der Bison jedoch in Asche auf, zerstäubt unter Sawyer wie ein implodierendes Vegas-Casino. Sawyer landet auf den Pfoten und läuft davon. Graue Partikel steigen wie Nebel aus seinem Fell auf.
Die Sonne – sie ist auf- und nicht untergegangen – brennt nun gnadenlos vom kristallklaren Himmel herab. Der Vogel kommt zurück, stürzt wie eine Rakete auf die Erde zu, und nun ist auch leicht zu erkennen, um was für einen Vogel es sich handelt.
Pfauenartig leuchtende Federn, dazu rote und goldene, eine riesige Spannweite. Das ist auf keinen Fall ein Vogel, der in Amerika heimisch ist. Genau genommen ist es nicht einmal ein Vogel, der überhaupt irgendwo in der Natur heimisch ist.
Der Phönix taucht bis fast auf den Boden und lodert plötzlich so hell wie die Sonne. Als die Füße meiner Mutter die Erde berühren, sind Zehen daran.
Sie ist nackt. Wäre ich tatsächlich in der Wüste, hätte ich mich jetzt abgewandt. Wer möchte seine eigene Mutter schon so sehen? Aber das hier ist nur eine Erinnerung, und nicht mal meine eigene.
Sie hebt das Gesicht der Sonne entgegen und atmet ein, als wären die Strahlen flüssiges Gold. Dann streicht sie mit den Fingern durch Sawyers Nackenfell. „Ich habe dir gesagt, dass er da sein würde.“
Der Tiger schimmert unter ihrer Hand und wird zu einem Mann, nackt, glänzend und köstlich. „Das hast du.“ Er sieht zu ihr herunter, sie ist viel kleiner als ich, und sein Blick ist weicher, als ich es jemals zuvor an ihm gesehen habe. „Und wie immer hattest du recht.“
Sie neigt den Kopf, als hätte jemand ihren Namen gerufen, die Bewegung ist die eines Vogels. Dann hebt sie den Blick zum Himmel, konzentriert sich ganz auf die Sonne. Ihre Augen flackern erst gelb, dann orange; die schwarzen Pupillen nehmen die Form eines Bisons an.
„Es gibt noch einen“, sagt sie.
„Zeig ihn mir“,
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