Die Phoenix Chroniken: Blut (German Edition)
durstig. Wenn Sawyer jetzt hier herumhing und Limo trank, würde ich wahrscheinlich einmal mehr versuchen, ihn umzubringen.
Aber er war eben nicht hier. Niemand war hier. Das machte mich nervös. Wo war der Junge?
Ich sah im Haus nach, im Hogan, in der Schwitzhütte und unter dem Sonnendach. Keine Spur von ihm. Vielleicht war Sawyer doch zurückgekehrt, um dann zusammen mit Luther fortzugehen.
Ich begann, Dinge zu berühren – Luthers riesige Nikes, Sawyers Kissen –, weil ich hoffte, einen Hinweis darauf zu finden, wohin die beiden verschwunden sein mochten. Aber Sawyer war schon immer gut darin gewesen, mich abzublocken, und offenbar wirkte sich diese Fähigkeit auch auf sein unbelebtes Eigentum aus, denn ich entdeckte überhaupt nichts. Bei Luther sah ich, dass er diese Schuhe in der Stadt getragen hatte, als er … Comics gekauft hatte. Das brachte mich nun wirklich überhaupt nicht weiter.
Mein Wagen stand vor dem Haus. Ich holte meinen Seesack und das Handy heraus, obwohl es mehr als fraglich schien, dass ich hier im Schatten des Berges überhaupt Empfang haben würde.
Ich wollte duschen, mich umziehen, eine Kleinigkeit essen und dann zum nächsten Ort fahren, wo ich meinen Laptop anschließen und Nachforschungen über den Phönix anstellen konnte. Manchmal vermisste ich Ruthies Stimme, und zwar mehr als …
Ich versuchte, mir etwas vorzustellen, das ich noch mehr vermisste. Es gelang mir nicht.
„Okay“, murmelte ich. „Ich vermisse Ruthies Stimme mehr als alles andere.“ Dass ich die Stimme vermisste, brachte sie aber nicht zurück. Doch … was konnte sie denn zurückbringen?
Ich spielte an meinem Hundehalsband herum, das sich noch immer um meinen Hals schloss. Vielleicht müsste ich diesen Dämon dafür loswerden. Aber ich wusste gar nicht, ob das möglich war.
Ich drehte das Wasser auf und zog Sawyers zerfetzte, schweißverklebte Kleidung aus. Erschöpfung lastete auf mir. Gegen das Böse zu kämpfen war nicht leicht. Gegen das Böse in einem selbst zu kämpfen … das war manchmal die reinste Tortur.
Ich stand unter dem Strahl, ließ den heißen Nebel um mich herum aufsteigen und atmete den Dampf wie Balsam ein. Der vertraute Druck des Wassers linderte das stechende Unbehagen, das mir den Berg hinab gefolgt war. Als ich damit fertig war, fühlte ich mich fast wieder wie ein Mensch. Eine ordentliche Leistung, wenn man bedenkt, dass ich keiner war.
Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Hinter dem dünnen weißen Duschvorhang tauchte der Schatten eines Mannes auf. Obwohl ich annahm, dass es Sawyer war, beugte ich mich vor und verbarg mein Messer, das ich auf dem Wannenrand abgelegt hatte, in der Handfläche.
„Wir müssen reden“, sagte ich.
Die einzige Antwort war ein lang gezogenes, rollendes Knurren. Das war kein Wolf, sondern eher eine Katze. Schon wieder.
Ich neigte den Kopf zur Seite. „Luther?“
Diesmal war die Antwort ein Brüllen, das den Spiegel über dem Waschbecken erzittern ließ. Das war also nicht Luther, sondern ein größerer, wesentlich böserer Löwe.
Ich betrachtete das Messer in meiner Hand und wünschte mir, dass ich das Gewehr mit den Silberkugeln nicht im Seesack gelassen hätte. Bei derart kurzen Reichweiten konnte das Messer problematisch sein.
Plötzlich wurde der Duschvorhang gewaltsam von der Stange gerissen, und ich starrte auf die Brust eines Mannes, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Groß und kräftig war er, seine Haut schien mir so dunkel wie der Kontinent, den seine Vorfahren durchstreift hatten. Und seine Augen hatten den gleichen goldenen Farbton wie sein zottiges Haar. Auch ohne das Grollen, das aus seiner Kehle drang, hätte ich ihn für einen Löwengestaltwandler gehalten.
„Wo iss de Junge?“, fragte er.
„Welcher Junge?“ Ich versuchte, Zeit zu schinden.
Wieder ließ der Mann ein Brüllen ertönen, riss mir mit einer Geschwindigkeit, die alles vor meinen Augen verschwimmen ließ, das Messer aus der Hand und rammte es mir in die Brust.
Warum mussten mir diese bösartigen Kreaturen nur immer in die Brust stechen? Ich gebe ja zu, sie stellte ein ziemlich großes Ziel dar, aber bitte! Lasst euch doch mal was einfallen. Versucht’s mal mit einer Niere, der Halsschlagader, sonst was, was auch immer. Umbringen würde mich ohnehin nichts davon.
Wegen des Schmerzes aber ließ ich die Deckung fallen, und der Löwenmann schlug meinen Kopf gegen eine Keramikfliese. Ich hörte den Knall und sah zu, wie die Welt um mich herum
Weitere Kostenlose Bücher