Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
und wird von niemandem, nicht einmal von der Familie benutzt.“
„Wie hält man denn die Leute auseinander, wenn niemand ihre Namen kennt?“
„Die meisten haben Spitznamen“, antwortete Whitelaw. „Für die Weißen. Innerhalb des Stammes gilt es unter den meisten Alten immer noch als Unsitte, jemanden in dessen Beisein mit dem Namen anzusprechen.“
Ich sah zu Saywer hinüber. Die Zigarette war ihm aus dem Mund gefallen, und er starrte Whitelaw an, als wolle er ihm an die Kehle.
„Was wissen Sie von der Naye’i ?“, platzte ich auf einmal heraus.
„Die Entsetzliche. Der böseste Geist, den die Navajo haben.“
„Haben Sie schon einmal davon gehört, wie man eine Naye’i tötet?“
„Töten?“ Whitelaw verzog das Gesicht. „Einen bösen Geist? Ich glaube nicht, dass das möglich ist.“
Carla hatte gesagt, dass wir ihm vielleicht helfen könnten, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Aber wie sollte das gehen, wenn ich die einzelnen Teile nicht einmal kannte?
„Geister sind gut und böse“, sinnierte Whitelaw. „Sowohl hell als auch dunkel. Da war doch mal was …“ Seine Stimme verlor sich, er starrte zum Fenster hinaus.
Mein Blick wanderte zu Saywer, dessen Augen stoisch auf Whitelaw gerichtet blieben. Luther lungerte nach wie vor in Türnähe herum. Wenn es angezeigt war, würde er als Erster draußen sein. Ich hatte das Gefühl, auch in den kommenden Jahren würde er sich noch in der Nähe offener Türen herumdrücken. Der arme Junge.
Auf einmal drehte sich Whitelaw um und schritt auf seinen Schreibtisch zu. Er durchforstete einen Stapel Bücher, warf ein paar Papiere zur Seite. „Es steht nirgendwo geschrieben, ich habe es nur gehört. Irgendjemand hat es mir erzählt.“ Eine Weile rieb er seine Stirn, dann sagte er: „Irgendetwas“, murmelte er, „irgendetwas vom Auslöschen der Dunkelheit.“
Nur weil Saywers Blick bei mir schon zuvor Unbehagen ausgelöst hatte, drehte ich mich jetzt zu ihm um. Er hob die Hand, der Blick war immer noch unverwandt auf Whitelaw gerichtet. Ich überlegte nicht lange und trat einfach zwischen die beiden.
In meinem Rücken dröhnte Luthers Knurren. Mich nach hinten umzudrehen traute ich mich nicht. Ich traute mich überhaupt nicht, mich zu bewegen.
Whitelaw hatte die Augen weit aufgerissen, seine dunkelbraune Iris sah wie ein riesiges, dämonisches Eigelb aus, das in einem Meer von Weiß schwamm. Ihm war klar, dass ihm Saywer ans Leder wollte; ich konnte es förmlich riechen. Ein siedend heißer Ozongeruch lag in der Luft, der gleiche Geruch, den auch die liebe Frau Mama verströmte, wenn sie wütend war.
„Machen Sie weiter“, befahl ich, und als Whitelaw zögerte, schrie ich: „Schnell.“
Whitelaw war ja nicht dumm. Er wusste, dass er in Schwierigkeiten war und dass er lieber mit der Wahrheit herausrücken sollte, denn danach gab es keinen Grund mehr, ihn umzubringen. Wenn er das Wissen mit uns teilte, würde es nicht mit ihm sterben.
Die Frage war nur: Warum sollte Saywer das wollen?
26
H ört auf!“, befahl ich der versammelten Mannschaft.
Luthers Knurren verebbte, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass Saywer seine Hand hatte fallen lassen. Dies hieß natürlich noch nicht, dass er sie nicht wieder erheben könnte. Und es hieß erst recht nicht, dass er Whitelaw nicht auch auf eine andere Weise töten könnte. Selbst wenn ich davon ausgehen musste, dass Saywer dies getan hätte, hätte er es gekonnt.
„Was sind sie?“, flüsterte Whitelaw mit viel zu geweiteten und weißen Augen.
„Sie würden mir doch nicht glauben.“
„Ich glaube schon.“
Dachte ich auch, aber …
„Nicht jetzt“, sagte ich und er nickte einvernehmlich. Auch er spürte die Dringlichkeit.
„Um die Dunkelheit auszulöschen“, murmelte er, „muss man sie bereitwillig annehmen.“
„Annehmen?“ Verächtlich schürzte ich die Lippen. Das wäre ja wohl das Allerletzte.
„Annehmen oder werden. Ich erinnere mich noch an meine Frage, und er sagte …“
„Wer hat das gesagt? Ein Navajo?“
Die Navajo konnten unmöglich wissen, dass ihr bösester Geist der Anführer einer Armee der Hölle sein würde. Sowohl die Hölle als auch der Gedanke eines Anführers entsprangen christlichem Denken.
Gerade fand ich jedoch heraus, dass das Christentum im Hinblick auf Endzeit-Prophezeiungen nicht viel zu sagen hatte. Zwar waren die Autoren Christen, aber vielleicht auch nur, weil sie es als Erste niedergeschrieben hatten.
Whitelaw schüttelte den Kopf.
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