Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
musste wohl gerade hinter einer Wolke verschwunden sein, denn es war zu dunkel, um zu erkennen, wo wir uns befanden. Während ich nach seiner Hand griff, öffnete ich den Mund – und im Geiste formte ich die Worte Wo bist du? Doch als sich unsere Finger berührten, wurde ich in atemberaubender Geschwindigkeit zurückgeschleudert. Jimmy war verschwunden, das Zimmer ebenfalls. Stattdessen flog ich durch einen langen, dunklen Flur mit vielen Türen.
Ich bin hier schon einmal gewesen. Nicht ganz genau hier, aber in jemandes Gedanken. Also kam mir die Ausstattung bekannt vor. Hinter diesen Türen lag die Welt der Erinnerungen.
Der Wind trug mich erst um eine, dann um die nächste Ecke, manchmal riss er mich so heftig mit sich, dass ich gegen eine Kante knallte und vor Schmerz zischte. Aber ich wurde unermüdlich weitergetrieben.
Papiere wirbelten auf, manche schlugen mir ins Gesicht und gegen die Hand; eines klebte mir an der Brust, ich schnappte es mir: die Quittung für Jimmys allerersten Gehaltsscheck von einer Zeitschrift. Er hatte einige der Fotos verkauft, die er auf einer Milchfarm geschossen hatte. Während ich bei Saywer war, hatte er den Sommer damit verbracht, in Wisconsin Kühe zu melken. Jimmy hatte wie immer das Beste daraus gemacht. Mit diesen Bildern hatte er sich ein Stipendium für die Western Kentucky verdient.
Nicht, dass er es jemals angetreten hätte.
Auf dem Boden verstreut lagen alte Basebälle, ein paar Messer mit verdächtigen Flecken, Negative und in einer Ecke das T-Shirt, das ich an jenem Tag getragen hatte, an dem ich meine Unschuld verlor. Erstaunlich, welche Erinnerungsschichten in den Untiefen der menschlichen Seele zu finden sind.
Auf einmal flaute der Wind ab und setzte mich vor einer makellosen weißen Tür ab. Im Vergleich zu manchen anderen auf diesem Flur wirkte diese Tür recht harmlos. Rechts von mir waren die verblichenen grauen Latten so gewellt, dass das Licht vom dahinterliegenden Zimmer durch sie hindurchdrang. Zu meiner Linken hing ein schweres, verrostetes Metallgerippe, das einst als Aufbewahrung für Fleisch gedient haben musste. Hinter mir ragte etwas bedrohlich auf, das nur einem Albtraum von Bram Stoker entsprungen sein konnte: ein riesiger, düsterer Torbogen mit einer großen, schwarzen Fledermaus als Türknauf. Mich juckte es in den Fingern, dort einmal anzuklopfen, aber Jimmy würde bestimmt mit einem Gehirntumor oder zumindest mit höllischen Kopfschmerzen aufwachen.
Den Gang etwas weiter hinunter stand eine Tür etwas hervor, sie hing nur noch an einem Messingscharnier. Was wohl dahinter stecken mochte?
Neugierig machte ich einen Schritt darauf zu. Oder versuchte es wenigstens. Meine Sandalen waren wie am Boden festgeklebt. Sofern es überhaupt einen Boden gab. Als ich nach unten schaute, sah ich nur meine Füße, die Sandalen und ein großes Nichts unter mir.
„Gut“, murmelte ich. „Die Antwort auf meine dringendste Frage liegt wohl hinter Tür Nummer eins.“
Ich griff nach dem Türknauf und versuchte ihn zu drehen. Er bewegte sich keinen Zentimeter. Ich rüttelte daran. Klopfte an die Tür. Schlug mit den Händen dagegen.
„He!“, rief ich und versuchte erneut, einen Schritt zu tun. Auch wenn ich mir fast den Knöchel verrenkt hätte, ich kam doch nirgendwo hin. Dann entdeckte ich das Guckloch.
Offenbar wollte Jimmy nicht, dass ich hinter diese Tür sah, aber das Traumwandeln war eine mächtige Kunst. Dennoch beeindruckend, wie es ihm gelang, die Tür vor mir verschlossen zu halten. Doch die dringliche Frage, für die ich mein Blut vergossen hatte, ging vor. Deshalb das Loch in der Tür.
Ich lehnte mich vor. Statt des verschwommenen Bildes, wie man es bekommt, wenn man von außen nach innen durch einen Türspion schaut, war meines klar und deutlich.
Jimmy und Ruthie in unserem Haus in Milwaukee. So wie die beiden aussahen, musste es Jahre her sein.
Auch wenn Ruthie scheinbar nie alterte, zeigte mir diese Erinnerung doch, dass das nicht stimmte. Ihre Haare waren noch nicht so ergraut, ihre Hände nicht ganz so knochig, ihre Augen hingegen wirkten müder als sonst. Wie seltsam.
Jimmy war vielleicht siebzehn. Hochgewachsen und noch ein wenig schlaksig, doch man sah schon den Mann, zu dem er einmal werden würde; blauschwarz schimmerte das Haar in der Sonne, die Augen funkelten vor Wut. War doch nichts Neues! Damals war Jimmy ständig wütend. Das gehörte zu ihm.
„Bist du verrückt?“, fragte er und die Stimme brach ihm vor Zorn und vor
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