Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
etwas anderem noch weg.
Ruthies Züge verhärteten sich. Gleich würde sie losdonnern. Respektlosigkeit duldete sie in keiner Weise. Als sie gar nichts sagte und ihm auch nicht auf den Kopf schlug, trat ich unruhig von einem Fuß auf den anderen. Meine Füße konnte ich also wieder bewegen, nur wollte ich jetzt nirgendwo anders mehr sein als hier. Was meine dringlichste Frage sein sollte, wusste ich nicht, doch war ich mir sicher, dass sie bald beantwortet werden würde.
„Ich kann das nicht“, fuhr er fort. „Es wird ihr …“
„Darum geht es doch“, sagte Ruthie. In ihrer Stimme lag eine Kälte, wie ich sie noch nie erlebt hatte. So kalt, dass ich die Arme um mich schlang, während ich alleine bibbernd in den Hallen von Jimmys Erinnerungen stand.
„Aber …“ Mit den Fingern fuhr er sich durchs Haar, eine Geste der Unsicherheit, Unschlüssigkeit und Angst.
„Hast du etwa geglaubt, ich würde es nicht herausfinden?“
Jimmy ließ die Hand sinken. „Ich wusste nicht …“
„Dass ich seherische Fähigkeiten besitze?“ Sie lächelte, doch war es nicht das Lächeln, das ich kannte. Das Lächeln, bei dem jedes Kind zurücklächelte und jedes verlorene Mädchen und jeder verlorene Junge sofort wusste, dass sie ein Zuhause gefunden hatten.
Nein, dieses Lächeln war so ganz anders. Es hatte etwas Berechnendes. Beinahe – wenn auch nicht ganz – war es das Lächeln der Frau aus Rauch. Das Lächeln sagte, dass dieses Wesen bereit war, alles zu tun, jeden Preis zu zahlen, jeden Menschen zu opfern, um zu bekommen, was es wollte.
„Hättest du dein Ding in der Hose gelassen, wenn du es gewusst hättest?“, murmelte Ruthie.
Jimmy sah schweigend weg.
„Nun, jetzt darfst du es rausholen. Tu, was ich dir gesagt habe. Das ist die einzige Möglichkeit.“
„Das wird sie umbringen.“
„Das verkraftet sie schon“, sagte Ruthie. „Wenn sie dich liebt, das bringt sie um. Sie darf keine Schwächen haben. Sie muss an die Welt denken.“
Mit den Händen rieb ich mir die vor Kälte schmerzenden Arme, ich zitterte so heftig, dass mir der Rücken wehtat.
„Du kannst dir auch keine Schwäche leisten. Sie würden es merken“, fügte sie hinzu. „Und du musst tun, was du am besten kannst.“
„Töten.“ Nun war jegliche Wut aus seiner Stimme gewichen. Wie zerbrochen klang sie. Am liebsten wäre ich jetzt zu ihm gegangen, aber er war ja gar nicht wirklich da.
„Dafür wurdest du geboren“, sagte Ruthie.
Geboren, um zu töten? Machte Ruthie Jimmy tatsächlich weis, dass er zum Töten auf die Welt gekommen war? Ich war zwar kein Psychologe, aber selbst ich wusste, dass man das einem Kind nicht gerade sagen sollte. Selbstverständlich waren es keine Menschen, die Jimmy umbrachte, aber trotzdem …
… hatte er auch.
Zu gerne hätte ich jetzt jemanden geschlagen, und ich wusste auch schon, wen. Schade, dass Ruthie genauso wenig dort war wie Jimmy.
„Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“, fragte Jimmy.
„Glaubst du etwa, sie würde es dir abkaufen, wenn du sie einfach zurücklässt? Glaubst du, wenn du weg bist, würde sie aufhören dich zu lieben, wo du der Erste warst? Hab ich nicht gesagt, rühr sie nicht an?“
„Ich kann es nicht …“ Er brach ab, und ich lehnte mich so weit vor, dass ich mir die Nase an der Tür plattdrückte. Was konnte er nicht?
Aber Ruthie ließ ihn nicht ausreden. „Wenn du einfach nur gehst, wird sie dich für immer suchen. Sie wird dann nie über dich hinwegkommen, und das muss sie. Für dich ist es Zeit, deinen Platz einzunehmen. Aber sie ist noch nicht so weit. Wenn sie dir folgt …“
„… stirbt sie vielleicht.“ Ruthie nickte, und nach ein paar Sekunden seufzte Jimmy. „Also gut, ich mach’s.“ Er lachte kurz und freudlos auf. „Ich meine, ich mach’s ihr. Wie hieß sie noch gleich?“
„Summer“, sagte Ruthie. „Summer Bartholomew.“
Ich schnappte nach Luft, und Ruthie und Jimmy drehten sich beide zur Tür um, aber da war ich bereits verschwunden, wurde so schnell aus Jimmys Gedanken gerissen, dass sich mir der Magen umdrehte. Oder lag es vielleicht an dem Ekel, den ich über das gerade Vernommene empfand und der in meinen Eingeweiden wie Säure brannte?
Ruthie hatte Jimmy befohlen, mit Summer zu schlafen, obwohl sie wusste, dass ich es sehen und es mir das Herz brechen würde. Und dass ich schließlich Jimmy dafür hassen müsste. Ruthie hatte alles von mir gewusst, auch wie verzweifelt ich die Liebe gebraucht hatte und wie sehr mich
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