Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
sich.
Jimmy stand am Fenster und starrte in die anbrechende Nacht, genauso splitternackt wie ich. Am Boden neben dem Bett lag ein T-Shirt aus seinem nicht versiegen wollenden Vorrat. Auf diesem stand: TOM PETTY – WORLD TOUR.
Unter denen, deren Gesichter die Regenbogenpresse und CD-Cover zierten, war es ein Statussymbol, wenn der große Sanducci ihr T-Shirt trug; sie hatten es geschafft, denn er hatte sie fotografiert. Tom Petty machte sich sicherlich nicht viel daraus, aber seine Leute bestimmt.
Ich hatte gehört, dass jeden Monat Dutzende von T-Shirts Sanduccis Briefkasten verstopften. Die Shirts von Leuten, dessen Fotos er nie geschossen hatte, spendete er an ein Obdachlosenheim und packte die echten in seinen Koffer. Am liebsten trug er sie mit Jeans und Jackett – auf dem Boden der Gefängniszelle war von beidem keine Spur zu sehen.
Ich schnappte mir den Türkis und Toms T-Shirt und streifte sie über. Der Stoff roch nach Jimmy, und ich musste mich beherrschen, um nicht meine Nase darin zu vergraben und ein wenig zu schnüffeln.
Meine Bewegungen oder die leisen Geräusche, die ich machte, veranlassten Jimmy, sich umzusehen. Seufzend ließ er den Kopf hängen. „Bist du wirklich da?“
Er sah noch schlechter aus als im Traum – blasser, wenn das überhaupt ging, erschöpft, ausgemergelt, traurig und entmutigt.
Quer durch den Raum ging ich auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er zuckte zusammen. „He“, murmelte ich. „Ich bin’s.“
Er fragte erst gar nicht, wie ich hereingekommen war. Er kannte meine Fähigkeiten.
„Verwandle dich zurück und verschwinde.“
Oder doch nicht.
„Ich kann mich nicht ohne Hilfe verwandeln.“
Jimmy fluchte. Und mit einer so raschen Bewegung, dass ich ihr nicht ausweichen konnte, packte er mich an den Armen und schüttelte mich. „Verschwinde!“, brüllte er.
„Oh, das bringt’s echt.“ Ich war ganz ruhig geblieben. Hatte ja keinen Sinn, wenn wir beide den Verstand verloren.
„Du begreifst es nicht.“ Seine Finger gruben sich noch immer in meinen Arm, hinterließen blaue Flecke, die beinahe genauso schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. „Du darfst jetzt nicht hier sein. Der Mond geht auf. Ich kann …“ Er schluckte, schloss die Augen und erschauderte. „Ihn riechen.“
„Du kannst ihn riechen“, wiederholte ich.
„Ihn hören, ihn fühlen. Wie ein Sog der Gezeiten.“
Ich legte ihm die Hand auf die Stirn. Sofort riss er den Kopf weg. „Ich bin nicht krank.“
„ Wie ein Sog der Gezeiten ? Aus dir sprudelt die Poesie, und das sieht dir so gar nicht ähnlich.“ In der Vergangenheit beschränkte sich Jimmys Verständnis von Poesie auf ein Mach’s mir noch ein letztes Mal .
Er raufte sich die Haare. „Er flüstert mir zu.“
„Der Mond“, stellte ich klar.
„Gewisssss.“
Von seinem Zischen bekam ich an meinen bloßen Armen und Beinen eine Gänsehaut.
„Er befiehlt mir …“ Zögernd ließ er seinen finsteren Blick über meinen Hals, meine Brüste und den Ansatz meiner Oberschenkel gleiten, der von dem Werbe-T-Shirt nur unzulänglich bedeckt war. „… schreckliche Dinge zu tun.“ Er befeuchtete sich die Lippen und seine Reißzähne blitzten auf.
Wenn der Mond erst einmal mit seinem Flüstern aufgehört hatte, wenn Jimmy erst zu der Bestie geworden war, zu der ihn sein Vater gemacht hatte, dann würde er mich auf grausamste Weise zu quälen versuchen. Denn wenn Jimmy ein Vampir war, war er so böse wie der Rest der Nephilim.
Ich durfte ihm nicht verraten, warum ich hier war, dass er von mir trinken sollte, und dass ich von ihm trinken musste. Denn wenngleich er als Vampir auch nicht mehr er selbst war, so konnte er sich doch an alles erinnern, und wenn er wüsste, warum ich danach trachtete, so zu werden wie er, würde er mir einen Strich durch die Rechnung machen.
Hier war Feingefühl angesagt, was nicht gerade meine Stärke war.
„Alles wird gut“, murmelte ich und strich ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn.
Argwöhnisch sah er mich an – ich war nie der mütterliche Typ gewesen, wahrscheinlich weil ich selbst nie eine richtige Mutter gekannt habe – und legte mir eine Hand auf die Stirn.
„Bist du krank?“, fragte er. Und bei seinem Versuch zu witzeln musste ich unweigerlich lächeln. Er war immer noch Jimmy, zumindest so lange, bis der Mond aufging.
Ich verschränkte meine Finger mit seinen, und als er zog, um freizukommen, ließ ich nicht los. Mir war ein Gedanke
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