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Die Pilatus-Verschwörung (German Edition)

Die Pilatus-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Pilatus-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf D. Sabel
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und folgte dem Mazda in gebührendem Abstand.

    ***

    Langsam wurde es Abend über der Domstadt. Erste Wolken begannen zögernd, sich ihrer flockigen Pracht zu entledigen. Schnee, dünn und zart wie Pulver, legte sich über alles und bedeckte Land und Mensch wie mit einem feinen Betttuch.
    Frau Emmerich stand in kindlicher Freude am Fenster und beobachtete das beginnende Schneegestöber. Mit einem zufriedenen Lächeln holte sie sich ihren Tee aus der Küche und legte einige der selbst gebackenen Plätzchen auf den grünen Teller mit dem Weihnachtsmotiv. Ein Weihnachtslied summend, zündete sie einige Kerzen an und machte es sich in ihrem Fernsehsessel gemütlich. Obwohl die Hüfte heute wieder arg schmerzte und obwohl der Weihnachtsabend bei ihrem Sohn weitaus weniger harmonisch verlaufen war, als sie erhofft hatte, war sie zufrieden. Ohne Zweifel durfte man sie zu der immer geringer werdenden Zahl jener Lebenskünstler rechnen, die mit wenig auskamen und trotz aller tragischen Wechselfälle des Lebens noch immer ein freundliches Lächeln für ihre Umwelt hatten.
    Vor sechs Jahren war ihre Tochter bei einem Unfall in Italien umgekommen, vor drei Jahren hatte sie ihren Mann an den Leberkrebs verloren, aber nichts davon konnte ihre Lebensfreude oder auch ihr Gottvertrauen trüben. Jeden Tag humpelte sie trotz schmerzender Hüfte zu ihrer Kirche St. Pantaleon, stellte für die lieben Verstorbenen zwei Kerzchen auf und bat den lieben Herrgott, er möge sie doch noch ein Weilchen auf dieser Welt lassen. Auf dem Rückweg besorgte sie ihre wenigen Einkäufe, zu denen sie wegen der penetranten Euroverteuerung und ihrer schmalen Rente überhaupt noch in der Lage war, und zog sich in die Gemütlichkeit ihrer kleinen Sozialwohnung zurück.
    Ab dem Nachmittag verfolgte sie dann mit Begeisterung jede Talkshow im Fernsehen, schimpfte lauthals über die unzuverlässigen Politiker aller Parteien, um dann doch bei der nächsten Wahl ihr Kreuzchen bei jener Partei zu machen, die sie dem lieben Herrgott am nächsten wähnte. Wenn man ihr denn überhaupt eine schlechte Eigenschaft nachsagen durfte, dann war das ihre Neugier, die allerdings schier grenzenlos war.
    Diese Neugier war es dann auch, die sie veranlasst hatte, die Tüte, die Conny Baumeister ihr an Heiligabend hastig hereingereichthatte, hervorzukramen und auf den Tisch zu legen. »Merkwürdig«, dachte sie. Hatte ihre nette Nachbarin nicht gesagt, es handle sich um ein Weihnachtsgeschenk für ihren Freund Frank? Aber Weihnachten war vorbei, und das »Geschenk« lag immer noch hier. Man müsste – freilich ohne indiskret zu sein – vielleicht einen kleinen Blick hineinwerfen.
    Zögernd griff sie erst nach dem Tee, dann nach der Tüte und hatte wenig später zwei unansehnliche Lederrollen ans Tageslicht befördert. Kopfschüttelnd starrte sie auf die beiden Futterale. Alt und verschlissen wirkten sie, und Frau Emmerich schüttelte den Kopf. So etwas konnte man doch nicht verschenken. Sie glaubte den jungen Mann so gut zu kennen, dass der sich über so altes Zeug gewiss nicht freute. Ein schickes Hemd, solide Strümpfe, vielleicht ein Aftershave. So was hatte man zu ihrer Zeit verschenkt, aber doch nicht ...
    Sie nahm einen der Behälter in die Hand und schüttelte ihn wie einen Mixbecher. Irgendetwas darin schien sich zu bewegen. Neugierig betrachtete sie das merkwürdige Ding von allen Seiten. Oben an der Spitze war es durch einen merkwürdigen Pfropf verschlossen. Wachs?
    Eine innere Stimme riet ihr dringend, es damit bewenden zu lassen und die Rollen zurückzulegen. »Fremdes Gut tut nicht gut«, hatte das nicht schon ihre Mutter immer wieder gesagt? Aber eine andere Stimme, von unmäßiger Neugier getrieben, meinte, man könne das Ding doch ruhig einmal öffnen. Was könne da schon passieren? Und sicher ließ es sich danach wieder mit etwas Wachs verschließen.
    Einige Minuten vergingen so im Zwiespalt dieser Gefühle, angereichert durch den Verzehr einiger Anisplätzchen. Aber dann, nach kurzem Zögern und einer weiteren Tasse Tee, begann die penetrant drängende Stimme der Neugier zu siegen. Mühsam humpelte Frau Emmerich in die Küche und holte ein Messer, das sie sonst eher zum Schälen der Kartoffeln nutzte. Ein kurzer Schnitt, die Kapsel bot nicht allzu viel Widerstand, und die Lederrolle war bereit, ihr Geheimnis preiszugeben.
    Voller Interesse blickte die alte Dame in die Rolle, und als sie nichts ausmachen konnte, was ihre Neugier zu befriedigen vermochte, begann

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