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Die Pilatus-Verschwörung (German Edition)

Die Pilatus-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Pilatus-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf D. Sabel
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für Latein, Geschichte und Philosophie vorstellt, landet man unwillkürlich bei einem Klischee. Dr. Justus Wiegand entsprach diesem Klischee haargenau. Seine hagere Gestalt, das schüttere graue Haar, die dünnen Lippen, die übergroße randlose Brille und sein leicht näselnder Tonfall, der auch im Ruhestand das Lehrerhafte nie ablegenkonnte, all das machte ihn zur idealen Verkörperung dieses Menschentyps. Trotzdem hatten seine Schüler seine warmherzige Art, die sich unter der akademischen Kühle verbarg, ebenso geschätzt wie seine unumstrittene Fachkompetenz. Sechsunddreißig Jahre hatte er unterrichtet, die letzten zwanzig davon an einem sehr renommierten, aber nicht weniger konservativen Gymnasium im Kölner Vorort Sülz.
    Zuletzt war ihm das Unterrichten doch deutlich schwerer gefallen, die jungen Leute von heute vermochten den eher traditionellen Werten seiner Fächer immer weniger abzugewinnen. Auch machte es den Eindruck, dass seine Schüler, verglichen mit früheren Zeiten, zu Hause ein deutlich geringeres Maß an Erziehung genossen hatten, was an vielen Kleinigkeiten abzulesen war. Ob es der übliche Gruß auf den Fluren war oder das Verhalten im Klassenzimmer, das nicht immer den gebotenen Respekt aufwies. Selbst bei den Tischmanieren, die spätestens auf Klassenfahrten auffielen, und zwar meist recht unangenehm, fehlten oft die nötigen Grundlagen.
    Oft hatte er sich gefragt, ob die Erziehungsdefizite mit der hohen Zahl der allein erziehenden Mütter oder Väter zusammenhingen. Oder auch mit der unleugbaren Tatsache, dass viele Elternpaare gemeinsam arbeiteten und sich die Begegnung mit dem Kind nur noch auf wenige Stunden oder das Wochenende erstreckte. Ganz ohne Zweifel erwarteten viele Eltern auch von der Schule, dass sie die Erziehungsdefizite behob. Vielleicht war er auch ganz einfach zu alt geworden und die Distanz, die sich deutlich zwischen den Generationen abzeichnete, zu groß.
    Nun befand er sich jedenfalls seit zwei Jahren im Ruhestand, und den genoss er sehr. Leider hatte seine Frau das nicht mehr miterleben können, sie war vor vier Jahren plötzlich an Krebs verstorben. Und da es auch seine Kinder in andere, weit von Köln entfernte Regionen verschlagen hatte, lebte er nun allein, wenn auch nicht einsam. Er reiste viel, vor allem nach Rom oder Griechenland, und auch die regelmäßigen Schachabende mit den pensionierten Kollegen oder in seinem Schachklub, zu dessen Vorstand er gehörte, ließ er nach Möglichkeit nie aus. Und dann war da noch sein Abonnement in der Kölner Philharmonie. Ein Gefühl von Langeweile war ihm also völlig fremd. Vielmehr hatte er wie vieleRuheständler das unbestimmte Gefühl, jetzt viel weniger Zeit zu haben als während seiner Berufstätigkeit. Abends machte er es sich mit Vorliebe gemütlich, ein Buch in der Hand und dazu eine Kantate von Bach. Wenn dann noch ein Glas halbtrockener Rotwein auf dem Tisch stand, war sein kleines Glück perfekt.
    Auch an diesem Winterabend saß er in seinem Lieblingssessel, der CD-Player lieferte die unvermeidliche Bachkantate, und auf dem kleinen Eichentisch lag aufgeschlagen die neueste Cicero-Biografie von Fuhrmann. Neben dieser Biografie hatte er sich angesichts des bevorstehenden Festes eine neue wärmende Strickjacke geleistet, und so genoss er diesen Abend wie die anderen auch. Der Weihnachtsrummel um ihn herum ließ ihn gänzlich kalt. Wen hätte er schon beschenken sollen? Freilich, als seine Isa noch gelebt hatte ...
    Das aufdringliche Geräusch der Wohnungsklingel riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken. Unwillig stand er auf und ging zur Tür. Er erwartete keinen Besuch, und wer ihn jetzt stören wollte, musste einen ziemlich guten Grund haben, bei allen olympischen Göttern.
    Vor ihm stand sein Wohnungsnachbar, Frank Hellinger, und lachte ihn aus spitzbübischen Augen an.
    »Guten Abend, Herr Doktor. Ich hoffe, ich störe nicht!«
    Dr. Wiegand mochte den jungen Mann, der, immer hilfsbereit, schon manchen kleinen Schaden in seiner Wohnung behoben hatte, denn handwerkliche Fähigkeiten gehörten nicht zu den Qualitäten des studierten Mannes.
    Immer gut gelaunt und freundlich, hob sich sein Nachbar wohltuend von vielen anderen Mitbewohnern des kleinen Hauses in der Südstadt ab. So schluckte Dr. Wiegand den aufkommenden Ärger schnell hinunter und bat den jungen Mann in sein Wohnzimmer. Verwundert registrierte er, dass Hellinger einen verschlissenen Aktenkoffer in der Hand trug.
    »Ein Glas Wein?«
    »Da sage ich

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