Die Pilatus-Verschwörung (German Edition)
vor, ja, er verspeiste gerade ein ganzes Hühnerbein.«
Noch in der Nacht erzählte ich Claudia vom Bericht des Cornelius, und sie hat mir wohl nie so atemlos gelauscht wie in jener Nacht. »Ich muss diesen Mann sehen!«, sagte sie danach mit einer Bestimmtheit, die ich an ihr zuvor nicht kennen gelernt hatte. Ich verbot es ihr. Man stelle sich vor, die Frau des Präfekten treibt sich in der Wüste herum, um einem jüdischen Wanderprediger zuzuhören.
Eine Woche später war sie verschwunden. Ich tobte, ich fluchte, unter der Peitsche gestand eine ihrer Sklavinnen, dass Claudia des Nachts zusammen mit Cornelius das Haus verlassen hatte.
Ich wusste, wohin ihr Weg sie geführt hatte, und wartete in ohnmächtigem Zorn auf ihre Rückkehr. Nach römischem Recht unterstand sie immerhin meiner Gewalt, und ich hatte vor, ihr das in aller Liebe und Deutlichkeit klar zu machen. Auch nahm ich mir vor, Cornelius zu bestrafen. Er hätte wissen müssen, dass er meine Frau nicht ohne mein Einverständnis mitnehmen durfte. So plante ich in hilfloser Wut schon meine kleine Rache. Aber es kam alles ganz anders ...
XXXVI.
Aus der hell erleuchteten Nobelvilla in dem Kölner Vorort drang das sopranhelle Stimmengemisch eines Kinderchores nach außen. Ein französisches Kinderlied, das in Deutschland vor Urzeiten als Weihnachtslied okkupiert worden war: »Morgen kommt der Weihnachtsmann ...«
Der Mann aber, der in dunklem Anzug und geblümter Fliege am Tisch saß, hatte keine Ohren für die weihnachtliche Musik. Mit zufriedener Miene glitten seine feinen Finger vorsichtig über die brüchigen alten Rollen.
»Meinst du, du könntest diese furchtbaren Dinger jetzt weglegen, Liebster? Ich wollte eigentlich den Tisch decken. Alles ist fertig, hörst du?«
Die Stimme aus der Küche klang leicht ungeduldig. Gleichzeitig zog der würzige Duft eines Bratens durch die Diele. Doch das kümmerte den Mann nicht, und er machte auch keine Anstalten, die Frage zu beantworten. Er war zu beschäftigt. Dann bequemte er sich doch.
»Gleich, mein Schatz, gleich. Lass mich nur noch einmal über dieses alte Leder streichen. Kannst du dir vorstellen, dass vor vielleicht zweitausend Jahren die Hände eines römischen Patriziers diese Rollen hielten? Vielleicht auch ein Antiquar der Colonia Ubiorum, der sie zum Verkauf anbot. Oder ein Sklave, der sie für seinen Herrn versiegelt hat. Das ist übrigens ungewöhnlich. Man versiegelte diese Rollen nicht so massiv, allenfalls mit etwas Wachs. Wenn man die Rolle so versiegelt, kommt man an den Inhalt nicht heran. Es sei denn, man bricht das Siegel wieder. Das hat man nur getan, wenn ...«
Er beendete den Satz nicht, es hörte ja auch keiner zu. Gedankenschwer betastete er die Rolle, untersuchte sie von allen Seiten und fuhr dann in seinem wissenschaftlichen Selbstgespräch fort:
»Noch kennen wir nicht den Inhalt, aber ich versichere dir, er ist einzigartig. Die Zeitung hat geschrieben, dass es sich um sensationelle Schriften handeln muss. Vielleicht ein Evangelium, das noch nie jemand gelesen hat? Irgendwas aus der Frühzeit der Christen jedenfalls, lag ja auch unter einer Kirche. Vielleicht ganz neue Erkenntnisse,etwas, was alles auf den Kopf stellt. Vielleicht hat Jesus die Kreuzigung überlebt, und die Rollen sagen uns, was er später gemacht hat. Vielleicht hat er wirklich in Frankreich gelebt und Kinder gehabt, wie ich einmal gelesen habe. Oder es gab Apostel, Evangelisten, die wir noch gar nicht kennen. Spannend, nicht wahr?«
Keine Antwort. Stattdessen fiel in der Küche eine Schale auf den Boden. Das klirrende Geräusch der Scherben weckte den Kunstliebhaber aus seinen Träumen.
»Karoline?«
Aus der Küche näherten sich knirschende Schritte ...
***
Im Hause Wiegand herrschte mehr als die übliche weihnachtliche Freude. Voller Begeisterung betrachteten alle die beiden schäbigen Lederrollen, die auf dem Küchentisch lagen. Man war mit Lejeune übereingekommen, dass er die Story erst einmal zurückhielt, und mit Kaplan Wagenbach, dass man an dem Deal festhielt. Der Kaplan hatte noch einmal telefoniert, und knapp zwanzig Minuten später war das Geld da. Zufrieden nahm Hellinger einen entsprechend dotierten Scheck entgegen. Überbracht hatte den Scheck eine Gruppe von kräftigen Seminaristen, »damit auf dem Heimweg nichts mehr passiert«, wie Kaplan Wagenbach augenzwinkernd bemerkt hatte. Auch Martin Lejeune hatte sich auffällig eilig verabschiedet und etwas von »letzten Geschenken«
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