Die Pilgergraefin
Robyn etwa recht? War ihr Weg, dieser lange, qualvolle, entbehrungsreiche Weg, auf dem sie diesem Mann begegnet war, Gottes Wille? Dem Mann, der ihr Herz jubeln ließ, dem ihre ganze Sehnsucht galt? Oder war dies ein sündiges, fleischliches Verlangen, das sie unterdrücken und bekämpfen musste, damit ihre unsterbliche Seele nicht die Qualen ewiger Höllenpein erleiden musste? Ach, könnte sie Robyns Worten doch Glauben schenken. Unruhig wand sie sich in seinen Armen, nicht wissend, welche Gefühle sie damit in ihm auslöste.
„Leonor, meine bezaubernde Leonor – so vertrau mir doch, und glaube mir, dass dich keine Schuld trifft.“ Er zog sie noch ein Stückchen enger an sich heran. Als er den Kopf hob, sah er, dass die Sonne bereits tief am Horizont stand. Nicht mehr allzu lange, und die Nacht würde sie umfangen.
„Ach Robyn, so gerne würde ich dir glauben, aber …“
„Kein Aber“, widersprach er. „Vielleicht entlastet dich ja der Gedanke, dass es gar keine vom Himmel als Strafe geschickte Seuche war, die deine Lieben dahingerafft hat?“, wiederholte er eindringlich die Ansicht, die er schon einmal ihr gegenüber geäußert hatte. „Nach allem, was du mir erzählt hast, überlege doch noch einmal: Findest du es nicht merkwürdig, dass ausgerechnet deine Schwester, die vom Fieber und der Niederkunft geschwächt war, überlebt hat? Ebenso wie du und deine Kammerfrau keinen Schaden genommen habt. Mir scheint, dass nur Männer erkrankten und starben. Und zwar die Männer, die an dem Gastmahl teilnahmen. Folglich liegt es doch nahe zu vermuten, dass irgendetwas mit den Speisen nicht in Ordnung war.“
Leonor richtete sich auf und sah ihn mit großen Augen an. „Darüber haben wir schon einmal gesprochen, und es mag auch so sein, wie du vermutest. Aber selbst wenn dem so wäre, würde es einen Unterschied machen? Ich habe meinen Gemahl überredet, in die Stadt zu reiten, und dort hat er den Tod gefunden.“
Verzweifelt fuhr Robyn sich durchs Haar. Wie konnte er Leonor nur von ihrer Meinung abbringen, in die sie sich so verrannt hatte? Beruhigend strich er ihr über die gesunde Schulter. „Versteh doch, du hast es ja nicht aus Eigennutz heraus getan. Deine Schwester, die du liebst, bedurfte deiner Hilfe. Nur das allein war der Grund, weshalb du in die Stadt wolltest – um Gutes zu tun. Alles andere, was dort geschah, lag außerhalb deiner Verantwortung, du hattest keinen Einfluss darauf.“
Kurz war ihr dieser Gedanke auch schon gekommen, doch der schmerzliche Verlust von Mann und Kind hatte sie die Ereignisse nie mit klarem Verstand betrachten lassen. Konnte es sein, dass Robyn recht hatte?
„Und selbst wenn du Schuld auf dich geladen hättest – was ich nicht glaube –, denkst du nicht, du hättest mit deiner Pilgerfahrt dafür gebüßt und am Grab des heiligen Apostels Vergebung gefunden?“ Robyn spürte, wie die Anspannung in Leonor ein wenig nachließ. War er endlich zu ihr durchgedrungen? Würde sie einsehen, dass sie schuldlos war an den tragischen Ereignissen? „Betrachte es als ein Wunder des Herrn, dass wir einander begegnet sind. Und wenn du es so sehen willst, als ein Zeichen, dass Er will, dass du hinfort glücklich bist mit mir – so wie ich an deiner Seite mein Glück finden werde.“ Eindringlich sah er ihr in die Augen und fügte hinzu: „Denke an deinen Traum. Gewiss ist er ein Zeichen des Himmels!“
Leonor schmiegte sich in Robyns starke Arme. Nach so langer Zeit fühlte sie sich endlich – zu Hause. Was war geschehen? Die so warm gesprochenen Worte des Chevaliers – ihres Chevaliers – hatten ihr Herz erreicht. Auch wenn sie noch immer eine leise Stimme in ihrem Inneren quälte.
Hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf ein neues Glück an Robyns Seite und den Schatten der Vergangenheit, presste sie sich unwillkürlich an seine breite Brust. Sie war ihm dankbar dafür, dass er sie einfach nur hielt – ihr Halt gab – und nicht versuchte, das leidenschaftliche Intermezzo von vorhin fortzusetzen.
„Sieh nur, die Sonne geht unter“, drangen seine Worte an ihr Ohr. „Dieses Schauspiel solltest du dir nicht entgehen lassen, denn es ist anders als im Norden und hier am Meer besonders beeindruckend.“
Und in der Tat hatte Leonor noch nie zuvor etwas derart Spektakuläres gesehen, nicht einmal, als sie an Bord der „Else von Wismar“ über die See gefahren war. Der rot glühende Feuerball am Horizont schien wirklich im inzwischen dunkelblauen Meer
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