Die Pilgerin von Montserrat
wir noch gar nichts daraus schließen«, sagte der Angeredete. »Wenn Ihr erlaubt, hochwürdiger Stellvertreter des Abtes, werden wir uns jetzt noch zu einer kurzen Beratung zurückziehen.«
»Dazu wünsche ich Euch gute Gedanken. Achtet aber darauf, dass Ihr nicht zu spät ins Bett kommt.«
Alexius schritt durch den Kirchenraum zurück. Die Tür fiel krachend ins Schloss. In der Sakristei nahmen sie Platz auf der Truhe und einem Stuhl. Markus holte Friedrichs Aufzeichnungen aus den Weiten seiner Kutte.
»Uns bleibt nichts anderes übrig, als diese Schrift weiter zu studieren, um etwas über die Hintergründe der Geschehnisse herauszufinden«, meinte er und begann zu lesen.
»Auf dem Weg von der ungarischen Grenze zum Orte Nisch wurde unser Heer von kaiserlichen Abgesandten empfangen. Sie übergaben Gottfried von Bouillon einen Brief, in dem, wie es hieß, darum gebeten wurde, Plünderungen zu unterlassen. Ich hatte täglichalle Hände voll zu tun, um die Söldner davon abzuhalten, auch davon, fremden Frauen und auch meiner Gefährtin Gisèle, die mir von Tag zu Tag mehr ans Herz wuchs, Gewalt anzutun. Mit Sorge beobachtete ich meinen Bruder Albrecht. Manchmal stand er in den Anblick Gisèles versunken da. Wenn ich ihn anrief, murmelte er sinnloses Zeug und eilte davon, um sich mit den anderen Männern am Branntwein zu berauschen. Immerzu konnte ich nicht über ihn wachen, also weiß ich nicht, was er hinter meinem Rücken anstellte. Auf jeden Fall gewann ich den Eindruck, dass er immer gieriger nach Gold und Mädchen wurde.
Von Nisch zogen wir mit Herrn Gottfried über Adrianopel nach Silivri, wo wir ein Lager aufschlugen. Ach, das Leben im Lager war nicht einfach. Wenn ich mit ansehen musste, wie Männer, Frauen und Kinder immer schwächer wurden, weil kaum noch Brot und getrocknetes Fleisch vorhanden waren, dauerte es mich zutiefst. Die Soldaten bekamen in erster Linie die Rationen, da sie für den Kampf gerüstet sein mussten. Es war inzwischen Anfang Dezember, die Nächte entsprechend eisig. Ich verkroch mich mit Albrecht in unserem Zelt, das wir mit fünf anderen Männern teilten, und dachte an meine Gisèle, die ich unweit von mir in derselben sternklaren Nacht schlafend wusste. Oft erbettelte sie Nahrungsmittel in den Dörfern, durch die wir kamen, wo die Einwohner auch kaum mehr zum Essen hatten als wir. Nach sechs Tagen im Lager waren die Söldner nicht mehr zu halten. Sie schwärmten aus und plünderten die ganze Umgebung, dabei ist sicher auch mancher unschuldige Mensch ums Leben gekommen. Wir mussten hilflos zusehen, ich musste zusehen, wie sich Albrecht in ein Tier verwandelte, nein, schlimmer als ein Tier, denn Tiere töten allein aus dem Verlangen zu fressen, er dagegen schien von einem wahren Blutrausch erfasst. Und über allem stand die Wallfahrt zum Heiligen Grab, unser Ziel, das uns alle einte und vorantrieb.
Am Tag nach den Plünderungen erreichten zwei Boten des Kaisers unser Lager, das Gottfried und sein Heer nach Konstantinopel rief.
Am 23. des Dezember im Jahre des Herrn 1096 erreichten wir Konstantinopel, wo wir zwischen den Kirchen St. Kosmidion und St. Phokas unser Lager aufschlugen. Es war direkt am Goldenen Horn gelegen, einer langgezogenen Bucht des Bosporus. Hier harrten wir bis zum April des Jahres 1097 aus. Unser Heer bestand aus Franzosen, französischen und italienischen Normannen, Flamen und Lothringern. Die berühmtesten Anführer waren neben Gottfried von Bouillon Bohemunt von Tarent, Raimund von Toulouse, Fulcher von Chartres und Balduin von Boulogne. Der gesamte Tross muss etwa 50 000 bis 60 000 Menschen umfasst haben, darunter 7000 Ritter und 22 000 Mann Fußvolk, dazu 50 000 Pferde. Wir warteten auf die anderen Kreuzfahrer, die sich hier mit uns vereinigen sollten.
Kaiser Alexios von Konstantinopel brachte den Kreuzrittern großes Misstrauen entgegen, da die Normannen verschiedene Kriegszüge gegen das byzantinische Reich unternommen hatten. Außerdem befürchtete er, dass die Kreuzfahrer byzantinisches Territorium für sich beanspruchen würden. Deshalb befahl er, ihm den Lehnseid zu schwören. Wir sollten die anatolischen Lande von den Seldschuken zurückerobern, und die eroberten Gebiete mussten sie nach dem Kriegszug an ihn abtreten. Gottfried von Bouillon wurde davor gewarnt, den Treueid zu leisten. Er lehnte ihn ab, und wir verbrachten das Weihnachtsfest vor den Mauern der Stadt. Es war bitter kalt, die Sichel des Mondes stand bleich über dem Goldenen Horn.
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