Die Pilgerin von Montserrat
in Mazamet verlassen hatte. In der alten Festungsstadt Carcassonne erinnerte jeder Stein an das Blutbad vor mehr als zweihundert Jahren. Markus fühlte sich erschöpft. Der Nebel, die Graupelschauer und der Regen setzten ihm zu. Der Montségur war nicht leicht zu erreichen. Markus musste an den Dichter Petrarca denken, der als erster Mensch einen Berg bestiegen hatte und zu keinem anderen Zweck, als seinen persönlichen Gipfel zu erreichen. Was war sein eigener persönlicher Gipfel? Zu welchem Zweck war er zu dieser Reise aufgebrochen? Markus dachte an die Worte, die ihm Abt Hieronymus über das Pilgern mit auf den Weg gegeben hatte, lange, bevor er eines so grässlichen Todes sterben musste. Das Pilgern bestehe aus dem Aufbrechen, dem Gehen oder Reiten, dem Rasten und Ausruhen, der Wegsuche, der Ankunft, der Wandlung und schließlich der Heimkehr. War er nicht in die Irre gegangen, waren sie nicht alle in die Irre gegangen? Gott verzeiht es jedem Menschen, wenn er in die Irre geht, nicht aber, wenn er es erkennt und nicht zur Umkehr bereit ist. Was trieb ihn, Markus, dazu, sich auf gefährlichen Pfaden diesem Berg zu nähern mit dem Ziel, noch einen ganz anderen Gipfel zu erreichen und ihm sein Geheimnis zu entlocken? Es war eine Frau, die ihn dazu trieb, und damit trieb ihn der Teufel, so hatten es ihn die Kirchenväter gelehrt.
Je mehr sich Markus dem Berg mit der Ruine auf der Spitze näherte, desto größere Unruhe ergriff ihn. Er hatte ein wenig über den Albigenserkreuzzug gelesen und wusste, dass dieser das Ende der Katharerbewegung bedeutet hatte. Nach fast einjähriger Belagerung mussten die Männer, Frauen und Kinder die Burg übergeben und verloren damit einen ihrer wichtigsten Stützpunkte. Er schautehinauf, blinzelte in die Sonnenstrahlen hinein, die sich durch die Wolkendecke stahlen. Die Burg wirkte eher wie ein in Stein gehauenes Adlernest als eine menschliche Behausung. Jetzt fiel ihm wieder ein, was er über diese Religionsgemeinschaft gelesen hatte: Hier hatten sich die Katharer sicher gefühlt, unerreichbar für den Arm der Inquisition. Und hier hatten sie auch ihre Rituale abgehalten, deren Geheimnis sie mit in die Flammen der Scheiterhaufen nahmen. Lachend und singend waren sie in den Tod gegangen. Sie sollten, gleich den Tempelrittern, Katzen auf den nackten Hintern geküsst haben. Sie lebten in Gängen unterhalb der Burg, die oberen Gemächer waren den Rittern und ihren Familien vorbehalten. Es sollte ein »Sonnenzimmer« gegeben haben. Ob dort alchimistische Rituale abgehalten wurden, etwa, aus unedlen Metallen Gold zu machen? Aber sicher nur im übertragenen Sinne, denn sie verachteten jedes Gold und jeden Besitz. Dagegen reinigten sie ihre Seelen, das, was auch jeder gute katholische Pilger mit einer Wallfahrt zu erreichen suchte, oder was die Kreuzritter mit ihren Kreuzzügen zu erreichen trachteten, was eigentlich jeder, der angetreten war, die Wahrheit über Gott, die Menschen und die Welt zu finden, erreichen wollte.
Die Burg blickte auf ihn herab, sie war ein stummer Zeuge einer Zeit, als sich Menschen dagegen auflehnten, von einem Papst gesagt zu bekommen, was die wahre Lehre sei. Markus begann einen schmalen, von Ginster überwucherten Weg hinaufzureiten. Trotz der Kälte trieb es ihm Schweißperlen auf die Stirn. Gab es überhaupt eine Wahrheit, die für alle gültig sein konnte? Musste nicht jeder für sich persönlich seine Wahrheit finden? Luther hatte den alten Glauben auf den Kopf gestellt, sich sogar eine entlaufene Nonne zur Frau genommen und mit ihr eine Familie gegründet. Welchen Zweck erfüllte der Zölibat? Er sollte die Männer Gottes davor bewahren, sich den Verlockungen des Fleisches hinzugeben und sich damit von Gott zu entfernen. Aber waren die Protestanten, die Katharer, die Märtyrer, die für ihren Glauben gestorben waren, schlechtere Christen? Konnten sie ihrem Gott nicht genausodienen? In Markus’ Kopf drehte sich alles, ihm wurde schwindelig, und er musste absteigen. Er warf sich auf die feuchte Erde nieder, die von verdorrten Grasbüscheln durchsetzt und mit Laub bedeckt war.
›Mein Gott, gib mir die Kraft zu entscheiden, was richtig ist! Ich bin allein, niemand kann mir einen Rat geben. Ist die althergebrachte Lehre die richtige, dürfen Neuerungen und Reformen der Kirche zugelassen werden?‹
Seine Finger krallten sich in die Erde. Markus stand auf und warf den Erdklumpen von sich. Er wusste jetzt, was er tun musste. Über dem Berg brachen abermals
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