Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
war Nacht geworden, als Alice aufgebracht und todtraurig den Raum ihres Vaters verließ und in den Gang hinaustrat. Eine sonderbare Stille hatte sich in den Hallen und Fluren ausgebreitet. Es war ihr unheimlich, eine Empfindung, die sich verstärkte, als sie Stimmen hörte, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Dann sah sie zwei Schatten sich durch die große Halle nähern, die bald als Personen erkennbar wurden. Martin! Fast hätte sie seinen Namen gerufen. Martin und der Abt! Martin hielt ein Bündel fest an sich gedrückt. Sie sprachen nicht mehr miteinander, sondern verabschiedeten sich, indem der Abt ein Kreuz über Martin schlug. Dann trennten sich ihre Wege. Martin stieg die Leiter zum Dach hinauf, wo die Knechte ihr Schlaflager auf dem Fußboden hatten. Alice war einmal mit Martin oben gewesen, es war Winter und entsetzlich kalt. Sie hatten gemeinsam das Stroh, auf dem Martin schlief, ausgewechselt. Sie spürte immer noch die Kälte in dem fensterlosen Raum, in den das Licht nur durch eine Öffnung im Dach drang.
Seltsamerweise erschien Alice dieser kurze Augenblick ihrer Kindheit wie eine Glückseligkeit.
Und jetzt? Martin hatte seit der Ankunft der Kreuzfahrer nicht mehr mit ihr gesprochen. Mit Sicherheit würde er nicht zu ihr kommen, um sich vor seiner Abreise zu verabschieden. Er hatte sie schließlich noch nie in ihrer Kammer aufgesucht, durfte es auch nicht, nur hatte ihr das bisher nichts ausgemacht. Vielleicht schläft er nicht. Vielleicht verstaut er nur sein Bündel und wartet auf mich im Keller bei den Weinfässern. Alice ergriff eine Öllampe, huschte durch den Gang und stieg die steile Steintreppe in das Kellergewölbe hinunter. Eisig und düster war es hier. Sie zog ihr Tuch fest um sich. Er würde nicht kommen, hämmerte es in ihrem Kopf. Die Füße wurden ihr kalt, überhaupt fror sie, müde war sie – Martin würde nicht kommen, es war umsonst, hier zu warten. Martin lag gewiss bei den anderen Knechten im Heu und schlief. Was wohl in dem Bündel war?
Alice wollte es beim Morgengrauen herausfinden.
Gewiss würde Martin dem Abt nach dem 1. Stundengebet frisches Wasser und vielleicht eine Kleinigkeit zu essen bringen. Dabei wollte sie ihn abfangen.
»Du hast mir aufgelauert«, stellte Martin in unwirschem Ton fest, als er den Raum des Abtes verließ. Er machte gegen seine Gewohnheit ein abweisendes Gesicht.
»Ich muss mit dir sprechen. Wegen Jerusalem.«
»Ach«, sagte er und warf den Kopf zurück. »Das geht dich nichts an. Das ist Männersache.«
Er sah ihren erstaunten, traurigen Blick.
»Entschuldige.«
Sie suchten die dunkle Nische auf, die sie schon seit ihrer frühen Kindheit oftmals für geheime Besprechungen genutzt hatten.
»Entschuldige, ich habe das eben nicht so gemeint«, sagte Martin.
»Weißt du, ich hatte mir das schon gedacht, dass du nicht mit mir reden willst.«
»Ach so«, sagte er kurz.
»Martin, wir waren immer wie Bruder und Schwester. Du kannst mich doch nicht hier allein lassen. Mein Vater geht, du gehst. Die beiden mir liebsten Menschen verlassen mich. Ich weiß nicht, wie ich diese Angst, die ich um euch haben werde, aushalten soll.«
»Was soll ich denn hier? Ich bin der Sohn einer Magd und ich werde immer Knecht bleiben. Du aber bist die Herrin. Du wirst schon bald einen Mann von Stand heiraten. Es ist überhaupt erstaunlich, dass du noch nicht verheiratet bist und noch kein Kind hast.«
Alice machte eine abwehrende Handbewegung.
»Natürlich wirst du heiraten – aber mich darfst du nicht heiraten. Das halte wiederum ich nicht aus, dein und deines Mannes Knecht zu sein. Sei nicht traurig, Alice. Ich kann hier nichts werden. Ich bin unehelich, ich bin ein Bastard, ein Unehrlicher wie die Spielmannsleute.«
»Weißt du denn wirklich nicht, wer dein Vater ist? Hast du gar keine Ahnung?«
»Meine Mutter hat nie mit mir darüber gesprochen. Und immer, wenn ich nachfragte, gab es Schläge.«
Alice seufzte.
»Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, wer mein Vater sein könnte. Aber es ist nicht herauszufinden. Sieh mal, wir sind beide gleich alt, beide am Tag des Heiligen Martin geboren.«
Er schwieg. »Ich kann darüber nicht sprechen.«
Alice war mutiger.
»Du meinst, ich bin am Hochzeitstag meiner Eltern entstanden oder ganz kurze Zeit später – und du bist zum gleichen Zeitpunkt …, na ja.«
»Ja, und zu diesem Ereignis waren hier viele vornehme Gäste versammelt. Meine Mutter sagte, dass über 100 Leute geladen gewesen wären,
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