Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
Aufschreiben und Abschreiben.
Wisst Ihr, es geht mir beim Dichten um den Zwiespalt zwischen Tugend und Schuld. Ein Ritter darf nicht vollkommen sein, sondern muss sich in Anfechtungen bewähren. Das jedoch setzt voraus, dass er zuerst schuldig wird. Wir alle sind Sünder und wir müssen es lernen, damit vor Gott zu leben.«
Anselm räusperte sich.
»Also, vor allem eine Erzählung geht mir nicht aus dem Sinn. Kurze Zeit, bevor ich das Kreuz nahm, wollte ich sie aufschreiben.
Es ist die Geschichte von Erec und Enide.
Dem jung verheirateten Paar zu Ehren wird am Königshof ein mehrwöchiges Fest veranstaltet. Doch statt dem Fest durch seine Anwesenheit Glanz und Freude zu verleihen, sinnt Erec nur noch auf die Erfüllung seiner Liebe und auch Enide begehrt ihren Mann heftig.
Die beiden verbringen die meiste Zeit im Bett. Erec verliert dadurch die Achtung und das Ansehen der höfischen Gesellschaft, der Hof verödet, weil die Ritter wegziehen. Eric begeht die Sünde des Verliegens.
Enide erfährt davon und will diesen für Erec schändlichen Zustand beenden. Weil sie aber fürchtet, ihn zu verlieren und in die Verbannung geschickt zu werden, klagt sie ihr Leid, während Erec zu schlafen scheint.
Dieser aber ist wach. Er springt auf, verlässt heimlich mit ihr den Hof und verbietet seiner schönen jungen Frau, mit ihm zu sprechen, sonst würde er sie umbringen. Dennoch bricht Enide das Schweigegebot, und zwar immer, um Erec vor Gefahren zu retten.
Erec kann sich aber nicht entschließen, seine Frau zu töten, stattdessen demütigt und schindet er sie.
Nach vielen Abenteuern erkennt Erec, dass seine Frau ihm zuliebe und aus Treue alles klaglos erlitten hat, und in dieser Nacht schlafen sie zum ersten Mal wieder miteinander auf einer Blumenwiese.
Enide hofft, dass alle Qualen überstanden seien. Doch auf ihrem Weg zum Artushof kommen sie zu einem schauerlichen, verfluchten Ort. Dort sitzen 80 trauernde, schwarz gekleidete Witwen und die Köpfe ihrer im Zweikampf getöteten Ritter stecken in einem verwunschenen Garten auf Pfählen.
Erec gelingt es, den Herrn dieses Gartens zu besiegen. Die Köpfe werden begraben und er führt die 80 Witwen zum Artushof, wo sie von der Königin in Ehren aufgenommen und von König Artus in Gold und Seide gekleidet werden.«
Anselm wandte sich an Martin.
»Wie würdet Ihr die Geschichte enden lassen?«
Martin zuckte die Achseln.
»Was haltet Ihr davon?«, fuhr Anselm fort. »Durch das neue Leben am Artushof werden die Frauen dazu gebracht, dass auch ihr Dasein wieder einen Sinn erhält und sich in Freude verwandelt.«
Martin krauste die Stirn und sah düster vor sich her.
»Die Lösung gefällt mir nicht. Ich glaube nicht, dass sich Trauer in Freude verwandeln lässt. Trauer ist ewig, der Schmerz ist ewig. Und wer etwas anderes sagt, der weiß nicht, wie grausam der Verlust ist. Die Zeit heilt die Wunden nicht und auch nicht der Artushof, auch wenn er das Edelste und Höchste ist, was wir uns von höfischem, ritterlichem Leben denken können. Der Tote bleibt tot«, sagte er schroff.
»Jeder von uns hier hat seit unserem Aufbruch nach Jerusalem mindestens einen Menschen verloren, den er schätzt, den er liebt«, wandte Anselm ein. »Meint Ihr, dass all diese Pilger in ihrem Leben niemals wieder glücklich werden, zumindest einen Augenblick des Glücks werden empfinden können?«
»Möglicherweise, aber nicht, wenn sie schuld am Tod des geliebten Menschen sind. Was ist denn das für eine Schuld in Eurer Geschichte? Erec vernachlässigt seine gesellschaftlichen Pflichten. Eine wirkliche Schuld besteht jedoch darin, dass man sie mit nichts auf der Welt wiedergutmachen kann. Wir können Pilgerfahrten unternehmen, wir können bitten und beten und uns selbst kasteien, wir können gute Werke tun, aber mit nichts können wir unsere Schuld, unsere Sünde wieder rückgängig machen. Sie schreit uns in alle Ewigkeit an und uns bleibt nur, zu klagen und uns anzuklagen.«
Anselm schwieg, natürlich, auch er war bei der Hinrichtung Theresas dabei gewesen, auch er hatte gesehen, wie Martins Frau auf der Mauer von Antiochia der Kopf abgeschlagen und über die Mauer katapultiert wurde. Auch er war dabei, als ihre Folterer ihren verwüsteten, entehrten Körper über die Mauer schleuderten. Nicht aber war ihm bekannt, dass sich Martin dafür die Schuld gab.
Es war Anselm unangenehm, schuldlos vor Martin zu stehen.
»Auch ich habe einen schmerzhaften Verlust erlitten. Mein Kaplan Roger ist
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