Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
nicht wirklich erwachte. Alice legte ihn an ihre Brust, er aber mochte nicht trinken, klagte, weinte, biss hinein, sodass sie ihren Finger in sein Mündchen steckte und ihn sanft von sich wegzog.
Vielleicht war ihre Milch zu dickflüssig, überlegte Alice, schließlich hatte sie zu wenig getrunken. Sie schickte Bernhard, Wasser zu kaufen, und öffnete nun zum ersten Mal nach über zwei Jahren ihren geheimen Geldbeutel vor dem geliebten, leider unerreichbaren Mann.
Es dauerte lange, bis Bernhard das ersehnte Wasser brachte, jedenfalls erschien es Alice so. Bernhard schimpfte über den unverschämt hohen Preis.
Eine Gruppe von Händlern sei überfallen worden, ganz in der Nähe des Lagers. Die Mönche wären gerade dabei, die Köpfe wegzuschaffen. Das treibe natürlich den Preis in die Höhe. Argwöhnisch besah er sich die Flüssigkeit, die Alice aus einem Lederbeutel in einen Becher goss.
Ein Knappe Balduin von Le Bourgs trat in das Zelt und meldete, sein Herr sei zum Ausritt bereit. Bernhard nahm Schwert, Lanze, Helm und Schild, stand unschlüssig vor Alice und beugte sich dann zu seinem leise röchelnden Sohn hinunter. An Alice gewandt, fragte er unsicher: »Meinst du, er ist sehr krank?«
Diese Frage stellte sich Alice seit Stunden, wie sie nun an Hannos Seite saß und mühsam versuchte, ihn zu stillen. Der Junge wollte nicht trinken. Er schrie auch gar nicht mehr, sondern lag teilnahmslos da, Fieberperlen auf der Stirn.
Und sie hatte nichts, womit sie die Stirn hätte kühlen können. Wehmütig dachte Alice an die kalten, nassen Umschläge, die Martha ihr daheim gemacht hatte. Hier vor Jerusalem gab es nichts Kühles. Nicht einmal die Klinge von ihrem Messer, die Alice ihrem Sohn auf die Stirn legte, war kalt.
Sie versuchte es mit Pusten, ihr Atem würde etwas Linderung bringen, aber sie sah bald ein, wie nutzlos das war.
Alice verzweifelte, während sie Hannos Händchen hielt und spürte, wie das Fieber stieg und stieg. Sie verzweifelte über ihre Ohnmacht, sie machte sich Vorwürfe, die sie abzuschütteln versuchte. Nein, sie war nicht schuld daran, dass Hanno so krank war. Schon seit Tagen, schon seit ihrer Ankunft vor Jerusalem kränkelte er, war weinerlich, hatte eine heiße Stirn. Jedoch so still war er noch nie gewesen. Sonst war er ein lebhafter Junge, der ihr keine Ruhe ließ, den sie nur mit Mühe und Überredung und Singen und Gebet abends zum Schlafen brachte. Wie oft hatte sie sich gewünscht, er möge endlich einmal früher einschlafen und sie nicht auch noch nachts aus dem Bett reißen. Jetzt aber lag Hanno teilnahmslos, fast bewegungslos da. Nur sein Atem ging schwer.
Wie bereute Alice diese letzte Nacht. Hätte sie Bernhard nur abgewiesen, als er, kurz bevor die Sonne über den judäischen Bergen aufging, doch noch zu ihr unter die Bettdecke gekuschelt kam. Stattdessen hatte sie sich in seinen Arm geschmiegt, seine Nähe, seinen Körper gespürt, war ruhiger geworden, als Bernhard ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Ohrläppchen sanft streichelte und ihr Ohrgehänge leise berührte, ohne dass es wehtat. Ein Schmerz, den sie von Hanno kannte, wenn sie nicht aufpasste und das Kind daran zog.
Vielleicht täte er es auch jetzt? Alice hielt ihr Ohrgehänge ganz dicht vor Hannos Gesicht – nichts. Der Junge, der sonst vor Vergnügen quietschte, wenn er die bunten Steine zu fassen bekam und daran riss, sodass Alice schnell seine Hände wegnahm, der Junge lag leblos, so als sähe er sein Spielzeug gar nicht.
Alice machte sich bittere Vorwürfe. Nein, sie hätte es nicht zulassen dürfen, dass Bernhard ihren Hals küsste, ihren Busen, ihren Bauch, um endlich leise, damit niemand, aber auch niemand, der außen am Zelt entlangging, es hören könnte, in sie einzudringen. Warum nur hatte sie das nicht verhindert, sondern sogar gewollt?
Weil es ihr in dieser letzten Nacht wie Schuppen von den Augen gefallen war, wie einsam sie war. Alle waren von ihr gegangen, Hildegard ins Kloster, ihr Vater hatte sich umgebracht, Theresa war tot wie ebenfalls die Bogenschützin, die Kinderfrau, und Martin, um dessen willen sie so heftig darum gebeten hatte, mit nach Jerusalem pilgern zu dürfen, war ihr fremd geworden, so fremd, schon so lange. Er lebte in einer fernen Welt, an der er sie nicht teilnehmen ließ. Alice fürchtete, Martin verachte sie. Was blieb, waren natürlich die Frauen, die Zeltnachbarinnen, und doch, seitdem das Heer vor Jerusalem lagerte, betrachteten sie einander misstrauisch, jede darauf
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