Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
sei, ihr Hanno in Bethlehem, der Geburtsstadt des Herrn Jesus Christus, gesund würde. Gleichzeitig packte sie die Angst, sie könnten überfallen werden. Wenn die ägyptischen Soldaten in der Überzahl wären, was könnte dann ein einzelner Ritter, was könnte selbst Bernhard gegen sie ausrichten. Nein, verbot sich Alice ihre Furcht. Es passiert gar nichts. Wir kommen heil in Bethlehem an. Sei unbesorgt. Bernhard beschützt dich und dein Kind. Und außerdem sind heute Nacht keine Feinde unterwegs. Sie haben selbst viele ihrer Leute verloren. Oder würden sie gerade deshalb ausziehen, um einzelne Pilger abzufangen und zu töten, um ihre eigenen Toten zu rächen?
Hanno wurde unruhig, fing leise an zu wimmern und zu weinen.
Alice fühlte ihre vollen Brüste, Bernhard hatte aus Ramla klares Wasser mitgebracht, sodass sie Hanno stillen könnte.
»Ich glaube, er hat Durst. Ich möchte mal versuchen, ob er trinken kann.«
Bernhard sah sich um. Die gebirgige, felsige Landschaft schien ihm nicht geeignet zu sein für ein Absitzen. Wie mühelos konnte aus dem Hinterhalt auf sie geschossen werden. Andererseits, so überlegte er, ging es darum, Hanno am Leben zu erhalten. Das Kind hatte seit Stunden nichts getrunken, eigentlich den ganzen Tag nicht, wie Alice ihm erzählt hatte. Wenn Hanno nun gestillt würde, so bliebe er am Leben. Vielleicht, nein, ganz sicher.
Die Pferde ließen sie frei laufen. Einen Baum zum Anbinden gab es nicht und die Tiere entfernten sich ohnehin nicht weit. Alice und Bernhard setzten sich auf den Boden, an einen Felsen gelehnt, Alice öffnete ihr Kleid und legte Hanno an.
Das Kind trank. Alice umkreiste mit dem Finger ihre Brüste, um auch den letzten Tropfen Milch herauszudrücken.
Da geschah es. Durch die lautlose Stille sausten Pfeile, ein Pfeilhagel traf die Pferde, die aufschreiend zusammenbrachen. Rab brach zusammen!
Schon waren die Krieger da. Schon waren die Feinde da – eine Überzahl.
Mindestens 18 Männer stürzten sich auf das Paar, entrissen Alice das Kind, packten sie und warfen sie zu Boden. Einer griff nach ihrem Rock und schob ihn hoch. Alice fühlte sein Geschlecht, sie schrie. In ihrer Verzweiflung, in ihrer Wut fasste Alice um sich nach dem staubigen Boden und drückte dem Mann winzige Steine in die Augen. Der heulte auf und ließ von ihr ab. Alice kam hoch, wurde ins Gesicht geschlagen. Doch während ihre Hände auf dem Rücken gefesselt wurden, sah sie Bernhard, wie er mit Hanno im Arm kämpfte. Dem Mann, der ihr das Kind entrissen hatte, dem hatte er den Arm abgeschlagen. Andere der Feinde lagen verwundet oder tot am Boden. Bernhard kämpfte mit aller Kraft und Leidenschaft und Verzweiflung gegen den Tod. Wie er wusste, vergeblich.
Von hinten packten sie ihn, hielten ihn fest, so sehr er sich wand und nach ihnen trat, sie entrissen ihm sein Schwert, entrissen ihm das Kind, fesselten ihn.
Hanno weinte.
Der Mann, der wohl der Befehlshaber war, sagte etwas in ihrer unverständlichen Sprache. Einige der Männer mit ihren unheimlichen langen schwarzen Bärten lachten. Dann wurde es ganz still.
Alice und Bernhard wurden zu dem Felsbrocken gestoßen, wo sie gesessen, wo Alice ihren Sohn gestillt hatte. Hart wurden sie am Arm umklammert und vor dem Block einander gegenübergeschleudert. Alice sah, dass Bernhard im Gesicht stark blutete. Doch sie schenkte der Verwundung, die sie früher erschreckt und besorgt gemacht hätte, kaum Beachtung, weil sie fühlte, wusste, das weitaus Schrecklichere würde nun folgen. Verwundert stellte sie sachlich fest, dass sie um ihr eigenes Leben überhaupt keine Angst hatte. Sie hatte nicht vergewaltigt werden wollen – und sie war nicht vergewaltigt worden. Das aber, was geschehen würde, war schlimmer, furchtbarer, gottloser als jede Vergewaltigung. Noch immer war es still. Fast still, denn Hanno schrie und versuchte, sich aus dem Arm seines Peinigers zu winden.
Der Mann schlug dem Jungen heftig auf den Rücken. Hanno schrie noch lauter.
Dann aber, wie eine Zeremonie, wie eine Opferung, wurde Hanno auf den Felsbrocken gelegt. In ihrer Herzensangst, in ihrer Todesangst rief Alice:
»Nein! Nehmt mich!«
Ein ganz junger Soldat lachte, zeigte auf sie und sagte ein Wort, das wohl ›Mutter‹ bedeuten sollte. Dann wies er auf Bernhard, lachte wieder und sagte wahrscheinlich ›Vater‹.
Ungerührt von Alice’ Aufschrei und ihrem Flehen, statt des Kindes geopfert zu werden, was er wahrscheinlich auch gar nicht verstanden hatte, gebot
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