Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
sich kaum Zeit, seinen Erfolg abzuwarten, er schoss und schoss, ohne Deckung wie sie alle. Von unbändigem Willen getrieben, versuchten einige Männer, mit Äxten und Hämmern die Mauer des Vorwalls zu beschädigen. Sie wurden vom herausragenden Turm aus abgeschossen wie die Kaninchen.
Überall Schreie, Blut, überall Verwundete, Sterbende, Tote. Männer krümmten sich vor Schmerzen am Boden, Frauen und Geistliche schleppten Verwundete weg vom Schlachtfeld.
Wir werden sinnlos abgeschlachtet, stellte Bernhard nüchtern fest. Den beißenden Gestank nach Feuer, nach verbranntem Stoff, nach verbrannter Haut einatmen müssend, durchfuhr es ihn: Das ist die Hölle! Nicht ewiger Schmerz, ewige Pein und Folterung, sondern die Verzweiflung in allen Gliedern, im Gehirn, es nicht zu schaffen, trotz aller Anstrengung, trotz Todesverachtung, trotz Todesmut.
Noch nie war Bernhard so hilflos, so ohnmächtig und verzweifelt in einer Schlacht gewesen. Dennoch kämpfte er Stunde um Stunde, den ganzen Tag. Er zwang sich, nicht nachzulassen, so wie jeder der Männer seine Erschöpfung missachtete. Jetzt oder nie! Dass es ein Nie würde, das war allen klar, wie sie über die Leichen stolperten und weiterkämpften und kämpften. Freunde waren schon längst tot und wer noch am Leben war, wusste niemand. Es war fast gleichgültig. Nur als Bernhard neben Olivier sich abmühte und dieser von einem Pfeil getroffen wurde, ins Gesicht, in das Auge, da durchfuhr es Bernhard: Wenn ich dieses Gemetzel überlebe, dann nehme ich es als Gottesurteil. Dann bin ich doch unschuldig.
Es wurde schon Abend, als sich die hoffnungsvolle Nachricht verbreitete:
Tankreds Leute haben den Vorwall überwunden und erklimmen die Mauer von Jerusalem!
Wir schaffen es doch, dachte Bernhard freudig, zielte und sah befriedigt, wie der Sarazene auf der Mauer zusammensackte.
Aber dann erging der Ruf zum Rückzug. Bis zum Äußersten erschöpft und enttäuscht, brachen die Männer den Kampf ab. Kaum zurück im Lager, erfuhr Bernhard, der Angriff mit der Sturmleiter sei gescheitert, Reybold von Chartre, der als Erster die Mauer erreicht habe, sei die Hand abgeschlagen worden. Darauf habe Tankred die Erstürmung der Mauer abgebrochen. Das Wehklagen über die verlorene Schlacht begann.
»Ein Ritter ist entweder ein Held oder tot!«
Wütend stand Bernhard vor dem Bett seines Freundes Olivier, der unter seiner dünnen Decke zusammengekrümmt fortwährend wimmerte und seine Hände über seine blutenden Augen hielt.
»Geh nicht«, bat Olivier und streckte die Hand nach Bernhard aus. »Lass mich nicht allein.«
»Ich hole jetzt Achard, der wird die Nacht bei dir bleiben«, erwiderte Bernhard in ruhigerem Ton. »Ich habe eben deinen Verband gewechselt, mehr kann ich für dich nicht tun.«
Noch immer aufgebracht, verließ er das Zelt.
Er konnte es nicht mehr hören, dieses: »Meine Augen, meine Augen, ich bin blind. Warum ich?«
Wie oft Bernhard auch den Verband wechselte und das zerfetzte rechte Auge und das blutunterlaufene linke Auge sehen musste, so schnell sickerten das Blut und der Eiter wieder hindurch. Wer verletzt war, sollte jedenfalls still sein, nicht um Hilfe rufen und klagen. Aber es schien im ganzen Lager nichts zu geben als Männer, die vor Schmerzen schrien, wenn ihnen Pfeile aus dem Körper gezogen oder durchgestochen wurden.
Zum Glück war Gottfried nicht verletzt oder gar tot, dachte Bernhard beruhigt, das würde die Lehensvergabe, um die er im Moment sowieso nicht bitten konnte, noch mehr erschweren. Wessen Vasall würde er dann? Des Erzbischofs von Lüttich, an den Gottfried sein Herzogtum verpfändet hatte, allerdings ohne seine Rechte aufzugeben?
Wie auch immer. Herzog Gottfried war nicht verletzt und auch sonst keiner der Fürsten, was eigentlich ein Wunder war. Und er selbst auch nicht – und auch nicht Achard.
Aber Olivier. Der Pfeil war wahrscheinlich von dem Vorsprung des Turmes abgeschossen worden, hatte das rechte Auge Oliviers seitlich gestreift und war auf den Knochen gestoßen, sodass die Iris aus dem breiten Wundspalt hervortrat. Das linke Auge jedoch, scheinbar unverletzt, war ebenfalls erblindet. Ein blinder Ritter! Bernhard schüttelte sich vor Ekel und Widerwillen. Und er musste ihn auch noch versorgen, auch wenn ein Mönch bisweilen ins Zelt guckte. Aber die hatten so viel zu tun mit den anderen Verwundeten und vor allem mit den Sterbenden. Im ganzen Lager – nur Sterbende, Leichen, die begraben werden mussten. Denn es
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