Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
würde, dass er trotz seines Armutsgelübdes noch eigenes Geld bei einem Juden versteckt hielt. Er hatte es hinter dem Rücken seines Ordens beiseite geschafft. Martin wusste es genau. Hatte Elias ihm den schwarzen Lederbeutel doch mit den Worten überreicht: ›Grüße den Abt und richte ihm aus, dass ich ein guter Verwalter gewesen bin. Ich habe die Zinsen nicht für mich behalten. Heute besitzt er bedeutend mehr Passauer Silberpfennige, als er mir in jener Nacht vor seinem Eintritt ins Kloster anvertraut hat.‹ ›Durfte er denn das? Er hatte doch als Mönch Armut geschworen‹, hatte Martin verwundert gefragt. Nachdenklich hatte der Jude den Jungen angesehen. ›Du bist noch unerfahren. Dass der Abt dir vertraut, ist eine hohe Ehre für dich. Wie ich mein Geld verdiene, nämlich durch Zinsen und Zinseszinsen – viele meinen, durch Wucher –, weißt du ja gewiss. Wenn also bekannt wird, dass der Abt durch die Geldgeschäfte eines Juden reich geworden ist, dann … Lass es dir von mir gesagt sein: Schweige. Der Abt ist wahrscheinlich viel zu vornehm, um ein Schweigeversprechen von dir abzunehmen. Und nun geh mit Gott.‹
Das war alles über die Maßen rätselhaft.
Zu gerne hätte Martin vor Alice angegeben, dass der Abt, vor dem alle irgendwie Angst hatten, mit ihm ein solches Geheimnis teilte.
Doch die Gefahr war zu groß. Der Abt verlöre sein Amt, er würde aus dem Kloster hinausgeworfen. Sicher würde er exkommuniziert, wenn Alice aus Versehen plauderte.
Martin entschied sich nun endgültig, das in ihn gesetzte Vertrauen nicht zu missbrauchen, und schüttelte abermals den Kopf.
Alice jedoch, Martin scharf aus den Augenwinkeln beobachtend, ließ nicht locker:
»Ist wirklich nichts Besonderes vorgefallen?«
»Nein, wirklich, wir haben über nichts Wichtiges mehr gesprochen.«
Um jedoch nicht zu schroff und unhöflich zu sein und ihr Misstrauen zu besänftigen, erzählte Martin, was Alice ohnehin schon wusste:
»Ja, und dann hat er mir zum Schluss noch seine eigenen Kleider geschenkt, die er besaß, bevor er ins Kloster ging. Ich durfte sie mir aussuchen.«
Alice zog die Stirn kraus.
Klarheit hatte ihr die Erzählung Martins jedenfalls nicht verschafft. Und schwer, seelisch beschwert, fühlte sie den schwarzen Lederbeutel mit den Passauer Silberpfennigen, an einer festen Schnur unter ihrem Kleid verborgen. ›Du musst Martin ja nicht unbedingt verraten, dass die Hälfte des Geldes für ihn ist‹, hörte sie in Gedanken den Abt sagen. Und sie schwieg.
Es war inzwischen dunkel und sehr kühl geworden. Die beiden jungen Leute gingen ins Lager zurück. Bevor sie jedoch die ersten Zelte erreichten, blieb Martin stehen, wandte sich ihr ganz zu. Ihr Gesicht war nun nahe dem seinen. Martin streichelte über Alice’ Wangen und mit einer für ihn selbst überraschenden Bewegung drückte er ihr einen Kuss auf den Mund, küsste sie leidenschaftlich – und sie ließ es gewähren. Er fasste nach ihrer Brust. Es dauerte viel zu lange, als dass ihr Verhalten schicklich gewesen wäre, bis sie seine Hand wegschob. Dann aber griff Alice ihre Holzeimer und lief eilends davon.
Zurück nach Passau, Winter 1096/97
Räuber! Der junge Ritter Bernhard von Baerheim kam nachts mit Martin und einigen jungen Männern aus Belgrad zum Lager zurück. Sie gehörten zu den Ersten, die frühmorgens mit einem Floß über die Save gesetzt waren und den Tag genutzt hatten, um sich die zerstörte Stadt anzuschauen. Es hatte sich schon seit Tagen die Kunde verbreitet, Peter der Einsiedler habe Belgrad mit seinen Leuten geplündert und anschließend niedergebrannt, die Bevölkerung sei in die Berge geflohen.
Nun waren Bernhard und seine Begleiter von Bauern, denen sie unterwegs begegneten, gewarnt worden, sie sollten vorsichtig sein, Belgrad sei zwar verlassen, aber keineswegs menschenleer, Räuber hausten dort in den Ruinen.
Räuber. Des Nachts überquerten sie mit Booten die Grenze von Byzanz nach Ungarn. Pferde stünden für sie dort schon bereit – sie ritten auf der Handelsstraße weit in das Land hinein, überfielen Kaufleute, flüchteten wieder über den Fluss und versteckten sich mit ihrer Beute in dem verödeten Belgrad.
Karl und Alice vernahmen die Nachricht mit Schrecken. Sie gehörten zu den letzten der unübersehbaren Menge von Pilgern, die sich an diesem Tag endgültig von der Heimat entfernten, indem sie das römisch-katholische Abendland verließen und das fremde griechisch-orthodoxe Morgenland betraten.
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