Die Plantage: Roman (German Edition)
Notar entfaltete den Briefbogen, der mit vielen Zeilen einer gestochen scharfen Schrift bedeckt war. Er setzte umständlich sein Pince-nez auf und begann vorzulesen: »An William Marshall …«, Clarke sah kurz auf, »An William Marshall Spencer, Col. B.A., et cetera. Mein lieber Spencer, verzeihen Sie, dass ich Sie kurzerhand zu Botendiensten verpflichte, doch Sie scheinen mir der geeignete Überbringer. Zusammen mit meinem Brief wurde Ihnen ein versiegelter Umschlag übergeben, den ich Sie bitte, meinem Londoner Notar James Clarke auszuhändigen. Wundern Sie sich nicht, dass ich nach jahrelanger Kritik an unserem Mutterland England die Handhabung juristisch komplexer Zusammenhänge in die Hände eines Mannes lege, der sein ganzes Leben im Herzen des alten Empires verbracht hat. Doch ich kenne niemanden mit einem besseren Urteilsvermögen. – Ich habe den Entschluss, England für immer zu verlassen, nie bereut. Auch Sie, Spencer, sind ein Mann für die Neue Welt; es war kein Zufall, dass wir uns inAmerika begegnet sind. Zugegeben, es ist nicht die beste aller möglichen Welten, aber es ist eine Chance: Der Anfang ist gemacht, auch Sie waren auf Ihre Art daran beteiligt. Ich hoffe, Sie kommen hierher zurück. Betrachten Sie Serenity Heights als Ihr Heim! In Freundschaft und Respekt, Julien F. C. Longuinius, Kongressabgeordneter der Provinz South Carolina, et cetera.«
Clarke faltete den Brief und legte ihn an den Rand des Schreibtischs, damit William ihn an sich nehmen konnte.
»Sie heißen tatsächlich Spencer?«
William nickte.
»Gut, Mr. Spencer, es könnte sein, dass ich Ihnen zu den übrigen Schreiben die eine oder andere Frage stellen müsste.« Er öffnete den Umschlag und entnahm ihm mehrere Schriftstücke, die meisten abgefasst in Longuinius’ präziser Schrift. Obenauf lag der amtliche Totenschein, dessen Inhalt Clarke kurz zusammenfasste: »Julien Longuinius verstarb am 2. April 1782 um vierzehn Uhr. Dem Bericht des Arztes, der den Totenschein ausstellte, zufolge, erlag er einem langjährigen Leiden des Herzens und der Koronargefäße. Als Todesursache wurde Herzstillstand infolge spontanen inneren Verblutens festgestellt.«
Longuinius musste schon länger im Bewusstsein seines nahen Todes gelebt haben, trotzdem blieb er dem Leben heiter zugewandt. William dachte mit schwerem Herzen an den letzten Besuch in dem stillen Haus. Er hatte nicht erkannt, dass Longuinius todkrank war, und ihn durch schwierige Gespräche unnötig angestrengt. Er hatte sogar mit Longuinius gestritten, der ihm vorwarf, Antonia gegenüber nicht aufrichtig zu sein. Wieso war er nur so unsensibel gewesen!
Clarke hatte inzwischen ein weiteres Schreiben überflogen. Das Blatt noch in Händen, sagte er: »Mr. Longuinius schreibt hier von einer Begebenheit, die sich in seiner Gegend zugetragen haben soll; eine Indianerin, die an sein Sterbebett kam,hat sie ihm erzählt. Ich kenne Longuinius als eingefleischten Skeptiker, aber diese Geschichte scheint ihn tief berührt zu haben; jedenfalls wollte er, dass Sie davon erfahren. Darf ich sie Ihnen mit meinen Worten wiedergeben?«
William nickte, und Clarke begann: »Die Secotan-Indianer Carolinas erzählen einen Mythos von einem Krieger, der schuldig wurde, weil er einem schwachen Mann das Leben nahm. Zur Strafe verhängten die Götter über ihn den Martertod. Die Frau des Getöteten hatte Mitleid und bat die Götter, dem Krieger das Leben zu schenken. Als Sühne für seine Schuld wurde ihm auferlegt, das Leben des schwachen Mannes weiterzuführen, damit die Ordnung der Welt wiederhergestellt sei. Nun berichtete die Indianerin, dass der Mythos oder die Legende, wenn Sie so wollen, sich in jüngster Zeit verwirklicht habe: Ein britischer Offizier und ein amerikanischer Rebell begegneten sich auf Leben und Tod. Unser Offizier tötete den Rebellen, worauf dessen Verbündete bei nächster Gelegenheit an ihm grausame Vergeltung übten. Vom Tode gezeichnet, fand der Mann auf den Besitzungen des Rebellen Zuflucht. Die Witwe nahm ihn auf, und er blieb bei ihr, bestellte ihr Land und sorgte für sie. Nach der Idee jenes Mythos hat er das Leben seines Feindes fortgeführt.« Clarke breitete die Arme aus, um auszudrücken, dass er sich einer persönlichen Wertung enthielt.
William hatte äußerlich unbewegt, dennoch aufmerksam zugehört. Er wusste, es war von Vier Federn die Rede, jener Indianerin, die neben dem toten Lorimer die Totenklage angestimmt hatte. Sie war es auch, die Williams Leben
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