Die Plantage: Roman (German Edition)
gespaltenen Wesen erlebt Augenblicke des Übergangs, wenn der bestimmende Wille von der einen Bewusstseinshälfte zur anderen wechselt. Solange beide Seiten um diesen Anspruch ringen, wirkt der Betroffene geistig wie gelähmt, bis sich eine Bewusstseinshälfte durchsetzt und die geistige Führung übernimmt.«
»Das heißt, während der Absence ist alles noch offen. Könnte man in diesem Moment nicht eingreifen und verhindern, dass die kranke Wesensseite sich durchsetzt?«
»Ein interessanter Ansatz, Mr. Quinn, aber zu theoretisch; ein Mensch, der in Absence fällt, wird niemanden um Beistand anrufen, weil er naturgemäß nicht weiß, was mit ihm geschieht.«
»Doch wenn man Absencen rechtzeitig erkennt, könnte man auf den Betreffenden einwirken und ihn zurückholen …«
»Halt, Sie stellen sich das zu einfach vor! Die Absence ist ein komplexes Geschehen, bei dem sich der Geist vollständig vom Bewusstsein löst. Sie ist ein abstrakter Raum jenseits von Gedanken und Gefühlen. In dem Zustand ist ein Mensch nicht ansprechbar. Wie wollen Sie ihn erreichen oder gar von dort zurückholen?«
»Es ist eine Frage des Vertrauens«, antwortete Quinn prompt. »Jemand, dem der Kranke vollkommen vertraut, wird ihn auch in der Absence erreichen und hätte die Möglichkeit, ihn in die Normalität zurückzuholen.«
Ingham konnte es nicht fassen: Quinn glaubte allen Ernstes, einen Psychopathen in seinem Wahn beeinflussen zu können! Das musste er ihm auf jeden Fall ausreden. »Idealismus wie der Ihre ist unerlässlich, wenn man mit psychisch gestörten Menschen umgeht, Mr. Quinn«, sagte er geduldig. »Trotzdem halte ich solches Vorgehen für zu gewagt. Bedenken Sie, man müsste den Betreffenden permanent überwachen. Und selbst wenn man eine Absence rechtzeitig erkennt, ist es fraglich, ob man in der Weise eingreifen kann, wie Sie es sich vorstellen. Auch ein vertrauensvolles Verhältnis kann nicht verhindern, dass sich der Kranke dem Einfluss entzieht. Und schließlich dürfen Sie die Dynamik dieser Krankheit nicht vergessen: Das Kräfteverhältnis der konkurrierenden Wesenshälften verschiebt sich unaufhaltsam.«
»Sie meinen, die kranke Seite wird stärker?«
»Und die gesunde Seite verliert an Kraft, ja, leider entwickelt sich die Krankheit in diese Richtung. Mit der Zeit wird der Betroffene dem Einfluss seiner dunklen Einflüsterungen verfallen. In den Augen seiner Mitmenschen verliert er nach und nach alles, was seine Persönlichkeit ausmacht, Gefühle, Intellekt, selbst die Empfindung für Hunger, Kälte, Schmerz. Am Ende, Mr. Quinn, ist er weniger als ein Tier.«
Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber. Beide kannten die Wahrheit über den Mörder von Elverking, aber ihre widerstreitenden Ziele machten es ihnen unmöglich, offen miteinander zu sprechen.
Quinn hatte zumindest ein besseres Verständnis für Reeds Geisteszustand bekommen. Er wusste jetzt, dass sich seine Verfassung unaufhaltsam verschlechterte; umso mehr war er entschlossen, ihn nicht im Stich zu lassen. Solange er verhindern konnte, dass Reed anderen gefährlich wurde, wollte er ihm ermöglichen, unter seinem Schutz ein achtbares Leben zu führen. Er hatte seine Entscheidung getroffen, und er hinterfragte sie nicht mehr. Obwohl er die Tote gesehen hatte und wusste, wohin der Irrsinn Reed treiben konnte, sah er in ihm in erster Linie den bewunderten Offizier, an dessen Seite er den Krieg überlebt hatte. Nun, da Reed seine Hilfe brauchte, stellte sich Quinn zwischen ihn und die Welt, um ihn notfalls mit dem eigenen Leben zu beschützen.
Ingham staunte, dass Quinn seiner Sache so sicher war. Auch wenn er sein Ziel nicht gutheißen konnte, beneidete er ihn um seine Unerschrockenheit. Auf einmal fühlte er sich alt. Er seufzte und sagte: »Ich muss an meine Reputation als Wissenschaftler denken. Es ist meine Pflicht, den Richter über die Identität des Mörders in Kenntnis zu setzten.«
»Dann wissen Sie also, wer es ist, Doktor?«, meinte Quinn unverfroren.
»Vorsicht, Mr. Quinn, auch für Sie steht eine Menge auf dem Spiel, vergessen Sie das nicht. Sollte wieder ein verstümmeltes Opfer aufgefunden werden, würde der Weg zu dem Mörder auch zu Ihnen führen. Es würde für Sie zum Schlimmsten kommen!«
Quinn sah ihn lange an. Dann schüttelte er langsam den Kopf, indem er sagte: »Es wird keine Opfer mehr geben, Doktor. Vertrauen Sie mir.«Die Reiter hatten die Straße verlassen und ritten an grünen Weiden entlang. Vereinzelt zeigten
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