Die Plastikfresser
die sich unter den »Inner Circle‹ zwängt, gefolgt von den Tunnels der ›Piccadilly-Line‹ und schließlich, die tiefste von allen, der ›Northern-Line‹.
Und jede Strecke ist mit Hilfe einer besonderen, eigenen Konstruktionsmethode angelegt worden. Die Streckenführung der ›Metropolitan-Linezum Beispiel ist mit Ziegelsteinen ausgemauert, und die Gleise sind ohne festen Unterbau verlegt.
Die ›Victoria-Line‹ dagegen ist aus Betonsegmenten zusammengefügt und zwängt sich an manchen Stellen zwischen der ›Metro-politan-‹ und der ›Piccadilly-Line‹ durch. Während des Baus mußten die ungestützten Gleise der alten ›Metropolitan‹ eigens mit Stahlplatten und riesigen hydraulischen Rammen unterfangen und abgestützt werden, um ein Absacken zu verhindern.
Als London noch nicht von einer häßlichen Beton- und Ziegelkruste überzogen war, flossen einige kleine Bäche und Flüßchen aus dem Hügelland im Norden der Stadt zur Themse hin. Als der Mensch, der unermüdliche Konstrukteur, die Erdoberfläche immer mehr mit seinen Bauwerken bedeckte, wurde auch der Lauf der Flüsse verändert, eingezwängt und schließlich in geschlossenen Vier-Meter-Rohren in den Untergrund gezwungen. Eins dieser Gewässer war die Fleet. Einst ein Flüßchen unter offenem Himmel, nun ein festumschlossener Unwetterhilfskanal, der dicht hinter einer der unterirdischen Fahrkartenschalterhallen von King’s Cross dahinfließt.
Ebenfalls in das in- und übereinanderverschachtelte Tunnelsystem eingebettet, befindet sich hier ein parallel verlaufendes Paar großer Wasserleitungen, ein halbmeterdickes Gasrohr und ein Abwasserumgehungskanal, der noch aus dem Jahr 1842 stammt.
Das Funktionieren dieser Versorgungsleitungen in einer modernen Stadt ist heutzutage eine Balance auf des Messers Schneide, zwischen voneinander unabhängigen überlasteten Systemen, die nur dann ihren Dienst tun, wenn sie tatsächlich voneinander unabhängig sind, das heißt, wenn es zwischen ihnen keine unerwünschten Einwirkungen gibt.
Solche verhängnisvollen Einwirkungen können manchmal mit scheinbar unbedeutenden Ereignissen beginnen.
Ein solches Ereignis näherte sich in dem nach Norden führenden Tunnel der ›Samson-Line‹, die von King’s Cross nach Hornsey und Islington führt, seinem katastrophalen Höhepunkt.
Es hatte eigentlich schon ein paar Wochen vorher begonnen: Sickerwasser war unbemerkt durch eine fehlerhafte Dichtung zwischen den Segmenten im Verbindungstunnel der ›Samson-Line‹ gedrungen. Unter normalen Umständen hätte das keinerlei Gefahr bedeutet, aber in diesem besonderen Fall war das Wasser aus dem darübergelegenen Unwetterhilfskanal des Fleets gesickert.
Dieses Sickerwasser wäre normalerweise die Wände heruntergelaufen und vom Boden aufgesaugt worden, ohne etwas Außergewöhnliches zu bewirken, wenn dieses Abwasser nicht zwei einzigartige Zutaten enthalten hätte und wenn die Kabelstränge an der Tunnelwand keinen Plastiküberzug gehabt hätten.
Wie es ein böser Zufall wollte, waren diese Kabel mit einer Außenhaut aus Plastikmaterial überzogen – allerdings waren die Hauptdrähte ihrerseits mit synthetischem Gummi isoliert.
Im Verlauf der folgenden Wochen begann der äußere Plastiküberzug aufzuweichen und zu zerfallen; übelriechende Streifen eines feuchten, klebrigen Rückstands tropften ab. Da die inneren Drähte mit Gummi überzogen waren und daher nicht von der Auflösung des Plastikmaterials betroffen waren, blieben die Kraftstrom- und Signalverbindungen unbeeinträchtigt, und in den Kontrollzentren ergab sich somit kein Hinweis auf eine Störung in den Signalsystemen oder der Energieversorgung.
Der Auflösungsprozeß pflanzte sich unbemerkt den Leitungen entlang fort, denn er verlief völlig lautlos – abgesehen von einem leisen Blubbern und Zischen, das durch das Platzen der Blasen an der Oberfläche des gärenden, verwesenden und abtropfenden Plastikmaterials entstand. Während sich die Blasen formten und platzten, füllte sich der Tunnel mit einem Gas. Ein Teil dieses Gases wurde vom Entlüftungssystem abgesaugt, ein anderer Teil aber verblieb in Nischen und Winkeln, in Ausweichstollen und sogenannten Taschen zwischen den Verstrebungen der Deckenstruktur.
Schließlich hatten sich die Voraussetzungen gebildet und in der verhängnisvollen Weise gemischt, die zur Katastrophe von King’s Cross führen sollten.
An der Oberfläche schlugen sich die Menschen, die nach Feierabend heimwärts eilten,
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