Die Poison Diaries
auf dem Fleck fest. »Es gibt für mich nicht mehr den geringsten Zweifel, Jessamine: Dieser stille, ungebildete Junge weiß aus irgendeinem Grund mehr als ich über jene Pflanzen, denen ich mein Leben verschrieben habe. Aber wie ist das möglich? Hat er dir irgendetwas verraten? Du darfst es mir nicht verschweigen.«
»Ich weiß nicht, was Weed weiß oder woher er es weiß«, sage ich ernst. »Ich wünschte, ich wüsste es.«
Vater starrt mich an, bis ich seinem Blick ausweichen muss.
Ich habe die Vermutung, dass er mir nicht glaubt.
***
Ich verbringe die Nacht dösend auf einem Stuhl, den ich mir aus dem Salon hinaufgeholt habe. Mein Schlaf ist so leicht und unruhig, dass ich die ganze Nacht lang träume. Es sind merkwürdige Träume von eisigem Wasser, das mich umwirbelt …
Ich bin nur ein Staubkorn in einem wilden Ozean, während eine lächelnde Riesin die Meeresbecken mit brausender, schaumiger Brandung erfüllt, sie leer wäscht und wieder füllt, wieder und wieder …
Es ist schon fast Morgen, als Weed sich endlich rührt. Sofort stehe ich neben ihm. Seine Augen sind noch geschlossen, da flüstert er ein einziges Wort:
»Jessamine.«
Mein Herz schwillt zum Zerbersten an. Was ist dies für ein Gefühl, dieser tiefe Schmerz, der sowohl Pein als auch Glück mit sich bringt? Ist das noch der Nachklang des Gifts jener bösartigen Nessel? Oder ist das Liebe?
»Ich bin hier, Weed.« Ich schiebe ihm die Locken aus der Stirn. »Ich hatte solche Angst um dich! Was ist im Garten geschehen? Hatte es etwas mit dem Blatt zu tun, das du gepflückt hast?«
Er schüttelt den Kopf. »Die Stimmen sind dort so laut. So laut und so böse. So wunderschön. Sie wollen, dass ich bei ihnen bleibe.«
»Welche Stimmen? Wer will, dass du bleibst?«
Er schaut mich mit diesen abgrundtiefen grünen Augen an. »Jessamine«, flüstert er, so leise, dass seine Worte wie ein Windhauch in meine Ohren wehen. »Ich bin nicht wie andere Menschen. Ich sollte nicht von diesen Dingen sprechen.«
In meinem Kopf dreht sich alles – es gibt so vieles, was ich über Weed nicht weiß. So vieles, was ich fragen will, fragen sollte … Aber ich habe Angst.
Es ist gewiss besser, es nicht zu wissen …
Aber ich will tapfer sein. »Als ich die Belladonna-Pflanzen mit dem Stock berührte«, sage ich mit zitternder Stimme, »da hast du aufgeschrien.«
Seine Augen weiten sich zu zwei grünen Murmeln – zu zwei kreisrunden Kugeln mit einem Innenleben aus Absinth. In der frühen Morgensonne wirkt die Farbe durchscheinend, wie der nach Anis schmeckende Absinth, den Vater in Wasser auflöst, immer nur einen einzigen berauschenden Löffel voll.
Ich nehme Weeds Hand in meine. »Kannst du mir wenigstens sagen, warum du im Apothekergarten ohnmächtig wurdest?«, bitte ich ihn. »Diese Stimmen – wem gehören sie?«
Die Vorhänge blähen sich vom Fenster weg in den Raum. Die duftende Frühlingsluft umschmeichelt uns. Ich beuge mich vor, bis mein Gesicht nur eine Handbreit von seinem entfernt ist. Ich schließe meine Augen und stelle mir vor, wie meine Lippen die seinen berühren, wieder und wieder.
»Sag mir, was du weißt«, flüstere ich. »Zeig mir, was du siehst.«
»Ich wünschte, ich könnte es.« Er wendet sein Gesicht ab. »Aber ich kann es nicht.«
Der Kuss stirbt auf meinen Lippen.
Kapitel 10
15 . Mai
Heute ist jegliche Arbeit verboten. Es ist ein Feiertag! Ich habe beschlossen, dass wir heute Weeds Geburtstag begehen werden. Er ist immer noch verwirrt über diese Vorstellung, also werde ich ihm die Sache wohl erklären müssen. Auf jeden Fall ist es eine gute Ausrede, um die Arbeit ruhen zu lassen und stattdessen ein Picknick vorzubereiten.
W eed ist jetzt siebzehn. Mehr oder weniger. In Bezug auf sein Alter sind wir – wie bei seinem Geburtstag – auf reine Spekulationen angewiesen.
Nach dem Zwischenfall mit dem Löwenzahn werde ich mich hüten, ihm anlässlich seines Ehrentages eine Kette aus Gänseblümchen zu flechten.
Ich frage ihn, ob ich ihm ein kleines Geschenk machen darf. Ich möchte ihn nicht in Verlegenheit bringen oder mich aufdrängen, aber ich bin mir sicher, dass er noch nicht viele Geburtstagsgeschenke bekommen hat. Ich möchte das wiedergutmachen, wenn ich kann.
»Wenn du möchtest«, antwortet er schulterzuckend. »Wenn es dir Freude macht.«
»Es würde mir Freude machen, aber wichtiger wäre mir, dass es
dir
Freude macht. Das ist der Sinn eines Geschenks. Gibt es etwas, das du dir
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