Die Poison Diaries
vor lauter Erleichterung an. Ich hoffe inständig, er wird abstreiten, dass irgendetwas Unschickliches passiert ist, denn selbst wenn ich zeitweilig den Verstand verloren habe, will ich glauben, dass Weed mich in jedem Fall beschützt und die Situation nicht ausgenutzt hätte.
»Es war nicht die Belladonna«, ist alles, was er sagt.
»Ach tatsächlich?« Vater stürzt unvermittelt auf Weed zu, so dass er einen Stuhl umwirft. »Oder ist es möglich, dass du doch nicht alles weißt, Master Weed? Die Belladonna hat sie blind gemacht, obwohl es so aussieht, als ob sie sich Gott sei Dank wieder erholen wird. Und dem Anblick nach zu urteilen, der sich mir beim Eintreten in mein Arbeitszimmer bot, scheint der Wirkstoff der Belladonna auch einige … Befangenheiten außer Kraft zu setzen.« Er wendet sich von mir ab. Seine Stimme ist plötzlich kalt. »Ich muss zugeben, dass ich von
dieser
Wirkung bislang nichts wusste. Ich werde es mir in meinem Buch notieren.«
Vater blickt Weed an: »Kann ich euch beide allein lassen? Oder sollte ich dich besser auch an einen Stuhl binden, Master Weed?«
Weed verkrampft die Kiefer und dreht sich zur Seite. Zufrieden verlässt Vater den Salon.
Ich schäme mich zu sehr, um etwas zu sagen. Weed sieht mich nicht einmal an. Zwischen uns hängt schwer die Schande.
Es war nicht die Belladonna …
Ich erinnere mich wieder – ja, da war diese merkwürdige Rücksichtslosigkeit, dieser fieberhafte Überschwang, der mich durchströmte, und zwar lange bevor Weed mir diese verfluchten Tropfen in die Augen träufelte. Bevor wir überhaupt das Arbeitszimmer betraten. Weed und ich saßen am Tisch und tranken aus den Tassen, die ich vorher so sorgfältig gesäubert hatte …
Der Junge scheint gewisse Kenntnisse über die Zubereitung bestimmter Tränke zu haben …
»Nein!« Der Schrei reißt sich aus meiner Kehle los. Im Bruchteil einer Sekunde ist Weed an meiner Seite
»Ist alles in Ordnung? Fehlt dir etwas?« Er kniet neben mir nieder. Seine Hand hält kurz vor der Berührung inne, will mich trösten, wagt es aber nicht. Sein ganzer Körper zittert.
Ich schaue ihm ins Gesicht und zwinge meine wunden, brennenden Augen, sich zu konzentrieren, damit ich in seinen Augen nach der Wahrheit suchen kann. Unergründliche, moosgrüne Teiche sind es – das ist doch gewiss Liebe, die ich in ihren Tiefen schimmern sehe, nicht wahr? Liebe und Sorge, und sonst nichts …
Oder war ich schon die ganze Zeit lang blind?
Der Tee, Jessamine … Der Tee war schon fertig, als du in die Küche kamst …
Nein, nein!
Weed würde so etwas nie tun!
»Und wissen Sie was, Luxton? Ich bin überzeugt davon, dass der Bengel ihnen etwas in den Tee geschüttet hat.«
Genau das hatte Pratt gesagt.
Nein!
Weed hat mir sein dunkelstes Geheimnis anvertraut. Und ich würde ihm mein Leben anvertrauen.
Aber sollte ich das wirklich tun?
»Jessamine, meine Jessamine«, flüstert er verzweifelt, wieder und wieder. »Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut? Geht es dir gut?«
***
29 . Mai
Meine Augen heilen allmählich, aber sie sind noch nicht wieder so weit hergestellt, als dass ich nähen könnte. Ich wünschte, es wäre anders, denn die Arbeit im Garten bereitet mir Höllenqualen. Jedes lebendige Grün erinnert mich an Weed. Wie ich die Pflanzen beneide! Sie können ihm den ganzen Tag etwas zuflüstern, können ihm ihren kühlen Schatten anbieten. Aber ich darf ihn nur noch am Abend sehen, im Salon, wenn Vater anwesend ist.
Steif reden wir über das Wetter und wünschen einander später eine Gute Nacht, wie Fremde.
Den ganzen Tag und die ganze Nacht ängstigt mich eine Frage: Wird Vater Weed wegschicken?
Es ist, als würde man auf einen heranziehenden Sturm warten, aber in diesem Fall gibt es keine Läden, die ich gegen das Unwetter verschließen kann. Wenn es über mir hereinbricht, dann wird es mein Glück wohl bis ans Ende der Welt wehen, wo ich es niemals wiederfinden werde.
Weed und ich gehen so sonderbar achtsam miteinander um. Unsere gemeinsamen Spaziergänge gehören der Vergangenheit an; der Luxus einer derartigen Intimität ist uns nicht mehr möglich. Den ganzen Tag lang benehmen wir uns wie Bruder und Schwester, keusch und respektvoll. Aber in der Nacht, wenn ich meine Augen schließe, kommt wieder jener Traum über mich, der kein Traum war. Seine Macht ist ungebrochen. Dann werfe ich mich ruhelos auf dem Bett hin und her, erschöpft und trotzdem unfähig zu schlafen.
Manchmal glaube ich, das
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