Die Poison Diaries
Beste wäre, wenn wir weglaufen und heiraten würden. Manchmal weiß ich nicht, was ich glauben und denken soll. Besonders, wenn ich allein in der Küche bin und Tee koche. Dann zittern meine Hände, mit denen ich das Wasser eingieße. Ich weiß jetzt, dass das wahre Gift in den Worten von Tobias Pratt liegt, in seinen Anschuldigungen, denn sie haben meine Gedanken mit Misstrauen infiziert und mit einem Verdacht, der wieder und wieder hinweggewischt werden muss.
***
2 . Juni
Vater bat mich, heute Abend etwas Besonderes zu essen zuzubereiten. Ich fragte, ob wir einen Gast erwarten, aber er gab mir keine Antwort.
Kommt Tobias Pratt, um Weed wieder abzuholen? Das ist alles, woran ich denken kann. Oh, mein Herz wird ganz krank!
Hammelkoteletts, geschmorte Karotten, frisches Brot und einen Rosinenpudding zum Nachtisch. Ich bin den ganzen Nachmittag lang mit den Vorbereitungen beschäftigt. Als Vater in die Küche kommt, stecke ich bis zu den Ellbogen im Seifenwasser und mache den Abwasch. Er befiehlt mir, meine Arbeit zu unterbrechen und mich umzuziehen. »Ich rate dir, etwas Hübsches auszusuchen«, fügt er hinzu. Als ob ich ein Dutzend Seidenkleider im Schrank hängen hätte! Was ist bloß in ihn gefahren?
Trotz meiner düsteren Stimmung verspüre ich Neugier. Für einen Gast vom Schlage eines Tobias Pratt würde Vater nicht von mir verlangen, mich hübsch zu machen. Ich frage mich, ob uns der Herzog höchstpersönlich die Ehre geben will, nur über den Grund für einen solchen Besuch kann ich mir nicht klar werden. Ich habe heute keine Jagdgewehre gehört.
Ich folge Vaters Anweisungen so gut ich kann. Ich besitze ein leichtes Musselinkleid, das meiner Mutter gehörte, mit einem mit zierlichen Falten verzierten Mieder und hübschen Stickereien an Ärmelaufschlägen und Saum. Das letzte Mal, als ich es anprobiert habe, schleifte es noch auf dem Boden und saß viel zu locker, aber jetzt scheint es recht gut zu passen. Ich flechte mein feuchtes Haar zu einem Zopf und binde eine Schleife darum. Selbst ich erkenne die damenhafte Gestalt im Spiegel kaum wieder.
Siehst du?
, gurrt mir eine Erinnerung ins Ohr.
Kannst du sehen, wie schön du bist?
Der Gedanke färbt mein Gesicht. Jetzt muss ich kein Wangenrot mehr auflegen.
Ich betrete den Salon. Das Kleid meiner Mutter macht mich verlegen. Zu meiner Überraschung hat Vater bereits den Tisch gedeckt, und zwar nicht mit unserem Alltagsgeschirr, sondern mit dem guten Porzellan mit dem Goldrand, das er und Mutter zur Hochzeit geschenkt bekamen.
Und – mein Herz setzt einen Schlag aus – Weed ist ebenfalls da. Frisch gebadet und gewandet in ein knisterndes weißes Hemd, dunkle Hosen und Vaters besten Rock, den mit dem scharlachroten Seidenfutter. Auch Vater hat sein Hemd gewechselt und eine ebenholzfarbene Seidenkrawatte umgebunden.
Solcherart wie für einen hohen Feiertag gekleidet, stehen wir wie steife Modepuppen da. »Kommt der Herzog zum Essen?«, frage ich schließlich, weil ich das Schweigen nicht länger ertrage. »So muss es sein; warum sonst würden wir uns diese Umstände machen?«
Vater lacht, tief und herzlich. »Kinder«, sagt er und streckt uns beiden seine Hände entgegen. »Dieses Festmahl ist für euch.«
Weed und ich schauen einander fassungslos an. Vater verschränkt die Arme hinter dem Rücken und setzt zu einer Erklärung an: »Auf den Tag genau vor einer Woche ging ich aus dem Haus und machte mich auf den Weg nach London. Aber schon ein paar Stunden später kehrte ich zurück und musste erkennen, dass in dieser kurzen Zeit einige Regeln gebrochen worden waren. Von den Einzelheiten müssen wir nicht mehr sprechen.« Vater hebt die Hände, um sich unseres Schweigens zu versichern. »Bitte, lasst mich ausreden. In den darauffolgenden Tagen habe ich viel über diese Ereignisse nachgedacht. Ich bin sicher, euch ging es ebenso. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ihr habt meinen ausdrücklichen Anordnungen zuwidergehandelt. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber ihr habt Buße getan, und ihr sollt wissen, dass ich euch vergebe.«
»Vater, du bist so gut …«, rufe ich aus.
»Geduld, Jessamine. Eben noch nannte ich euch Kinder, aber ich glaube, wir alle haben erlebt – und die Verfehlungen, von denen ich sprach, sind der beste Beweis dafür –, dass ihr keine Kinder mehr seid. Im Gegenteil. Ich habe allen Anlass, stolz auf meine Beobachtungsgabe zu sein, aber manchmal ist ein Vater der Letzte, der erkennt, was sich direkt vor
Weitere Kostenlose Bücher