Die Poison Diaries
daran.«
Ich rühre in meiner Tasse, die nun fast leer ist. »Hast du es jemals gesehen? Ist es wahr?«
»Ich habe es nie selbst erlebt, aber mir wurde gesagt, dass … die Wirkung stark ist«, antwort Weed zögernd.
»Dann muss ich es einmal versuchen.« Ich fühle mich mit einem Mal kühn, verrückt, rücksichtslos.
»Aber nichts könnte dich jemals schöner machen«, sagt er mit einem Lächeln. »Das ist ganz und gar unmöglich.«
»Ich bin sicher, dass die Belladonna widersprechen würde.« Ich stehe auf. »Komm, Weed! Zeig mir, wie man es macht.« Lachend nehme ich ihn bei der Hand. Woher kommt diese rauschartige Unbekümmertheit? Ich kann kaum den Boden unter meinen Füßen spüren, während ich Weed halb ziehend, halb tanzend zu Vaters Arbeitszimmer führe.
»Da sind sie«, sage ich und deute auf das oberste Regalbrett. Ich könnte mir einen Stuhl holen, darauf klettern und mich auf die Zehenspitzen stellen, aber das ist nicht nötig. Ich habe Weed mit meiner Stimmung angesteckt, und er reicht mühelos an das verbotene Glas heran.
»Wie funktioniert es?«, frage ich ihn, während ich mich kokett vor dem Schreibtisch um die eigene Achse drehe.
»Ein Tropfen ihres Saftes in jedes Auge, mehr braucht man nicht.« Weed öffnet das Glas und holt eine der kostbaren dunklen Perlen heraus. Träge rollt sie über seine Handfläche. »Deine Pupillen werden sich weiten, und deine Augen werden feurig funkeln – man sagt, dass kein Mann diesem Blick widerstehen kann.«
»Tu es«, bitte ich ihn. Meine Stimme klingt plötzlich fremd in meinen Ohren. »Mach mich schön, Weed. Ich möchte dich mit diesen funkelnden Augen anschauen.«
Mit einer sanften Bewegung nimmt er mein Kinn und legt mir den Kopf in den Nacken.
»Öffne deine Augen weit und schau nach oben«, befiehlt er.
Ich tue es, und dabei starre ich auf das Deckengemälde über Vaters Schreibtisch, ein Überbleibsel der alten Kapelle. Ich sehe Adam und Eva im Garten Eden, den Baum der Erkenntnis hinter sich. Eine Schlange ringelt sich um einen überhängenden Zweig, an dem die köstliche, verbotene Frucht hängt …
»Jetzt halte still …«
Eins … zwei …
Die Tropfen brennen wie Säure, und ich schreie auf.
»Es tut nur einen Moment weh«, beruhigt mich Weed. »Jetzt schließe deine Augen, und wenn du bereit bist, öffne sie.«
Ihr seid beide verrückt geworden
, meldet sich der geisterhafte Rest meines gesunden Menschenverstands.
Sei still
, befehle ich dem Geist und öffne die Augen. Sogleich weiß ich, dass die Tropfen wirken. Ich fühle ihre kraftvolle Hitze in meinem ganzen Sein. Die Belladonna-Tropfen machen mich hinreißend schön, verführerisch, unwiderstehlich – jedenfalls denke ich das. Die Welt ist ein einziger Schemen. Jeder Gegenstand zerfließt wie Sirup in den nächsten.
»Weed, ich kann nichts sehen«, beklage ich mich.
»Du musst auch nichts sehen«, erwidert er. »Du musst bewundert werden.«
»Aber ich möchte gerne wissen, was
du
siehst, wenn du mich anschaust.« Ich taste mit den Händen nach Weed. »Wo ist der Spiegel?«
»Also schön.« Weed nimmt mich an der Hand. »Schau her und bewundere dich selbst.«
Wir stehen gemeinsam vor dem Spiegel. Ich kann kaum etwas erkennen. Ein gelber Fleck, wo mein Haar sein sollte, der über einem langen Fleck schwimmt, der die Farbe des Kleides hat, das ich heute Morgen angelegt habe. Das Bild kräuselt sich vor meinen Augen, wird flüssig. Dann verdunkeln sich plötzlich die Kanten, wie Pergament, das zu nah an eine Flamme gehalten wird.
»Siehst du?«, fragt Weed von weit, weit weg. »Kannst du sehen, wie schön du bist?«
Ich kann es nicht sehen. Ich kann gar nichts sehen. Ein weicher Schleier aus Dunkelheit hüllt mich ein. Weeds Stimme ist nun meine Welt. Sie streichelt mich. Wärmt mich wie die Sonne.
Ich liebe ihn.
Ich drehe mich um und strecke die Arme aus, bis ich ihn ertaste. Meine Blindheit macht mich kühn. In dieser dunklen, heimeligen Welt ist alles, was passiert – was passieren kann – nur ein Traum, eine Vision, eine Phantasie. Nichts ist verboten.
Ich bin blind und habe mich noch nie so frei gefühlt. Ich klammere mich an Weed wie an einen rettenden Fels. Ohne etwas erkennen zu können, lasse ich meine Hände über seine Brust gleiten und verschränke sie dann in seinem Nacken. Ich werfe den Kopf zurück, damit er in meine nutzlosen Augen schauen und sich von ihnen verzaubern lassen kann. »Schöne Dame.« Sein Flüstern umwabert mich wie Rauch.
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