Die Poison Diaries
Wut.
Gib dich nicht der Selbsttäuschung hin, Weed. Deine Wut hat nichts mit uns zu tun. Sie lebt tief in deinem Inneren.
Genug. Wie ein Hund schüttele ich die Wassertropfen aus meinem zerzausten Haar. Dann mache ich mich auf zu der Lichtung am höchsten Punkt des Waldes. Von dort kann ich wenigstens den Himmel sehen und das plappernde Dickicht aus Laub hinter mir lassen. Trotzdem folgt mir die schulmeisterliche Rede den Hügel hinauf.
Deine Ohren haben die Macht, uns zu hören, aber dein Herz ist so bitter wie ein Rhabarberblatt. Diese Bitterkeit macht dich der Wahrheit gegenüber taub.
»Lasst mich in Ruhe«, schnaube ich und trete nach einer Wurzel.
Du hast einen Fehler gemacht, Weed. Deswegen leidest du. Du hast den Wert eines Lebewesens einem anderen vorgezogen, als ob nicht alles Leben den gleichen Wert besäße. Du hast Schreckliches getan – um ihretwillen, um eines Menschenmädchens willen, wegen eines hübschen Geschöpfs mit goldenen Haaren …
Jessamine.
Die Blätter wispern ihren Namen. Die Luft schimmert bei seinem Klang. Er durchbohrt mich wie ein Dorn.
Denk daran, Weed: Das Wohl eines Baums spielt keine Rolle. Das Wohl des Waldes ist wichtiger als alles andere.
»Genug!« Ich halte mir die Ohren zu. Werden sie mich jemals in Frieden lassen? »Menschen denken anders als ihr. Sie … wir … fühlen nicht so wie ihr.«
Das wissen wir.
»Und nicht alle Pflanzen sind so selbstlos und edelmütig wie ihr behauptet. Es gibt das Böse in der Welt der Menschen – ebenso wie in der Welt der Pflanzen.«
Überall im Wald wird es still. Das Schweigen ist unnatürlich.
Das wissen wir
, sagt der Wald schließlich.
Das wissen wir nur zu gut.
***
Auf aufgeschürften Händen und zerkratzten Knien setze ich meinen Aufstieg fort, hinauf auf das Plateau, das sich am Rand des Waldes erhebt. Die Lichtung auf dem Gipfel ist klein verglichen mit den schier endlosen Feldern von Hulne Park. Es ist ein offenes Areal aus hoch gelegenem Sumpfland, mit Büscheln aus hartem Gras, die ein kleines Stück Heide und einen Torfacker einrahmen.
Die grauen Wolken hängen tief und schwer. Trotzdem atme ich auf, weil ich mich wenigstens ein Stück von den Bäumen entfernen und den offenen Himmel sehen kann.
Die Moltebeeren sind reif. Genauso wie die Krähenbeeren. Ich greife herzhaft bei den braunen und lilafarbenen Früchten zu. Die Pflanzen haben nichts dagegen, dass ich mich bei ihnen bediene, denn auf diese Weise verbreiten sie ihre Samen. Sie summen vor Stolz, wenn ich die saftigsten Beeren auswähle und ihre Süße in höchsten Tönen lobe.
Ich folge dem Bach, der sich mitten durch die Lichtung schlängelt. Es dauert nicht lange, da höre ich ein vertrautes Necken.
Berühre mich. Berühre mich nicht. Berühre mich. Berühre mich nicht.
Wenn ich nicht in solch einer düsteren Stimmung wäre, würde mich der Klang zum Lächeln bringen. Am feuchten Rand auf der anderen Seite der Lichtung, dort wo der Bach wieder im Wald verschwindet, wachsen jene, die ich in Ermangelung eines besseren Wortes meine Freunde nenne. Diese einfachen Blumen sind in diesen Tagen meine liebsten Gefährten. Ihre Unterhaltung hat die Macht, meine Verzweiflung zu lindern, so wie der Saft aus ihren Stängeln das Brennen der Nesseln lindert.
Sie wachsen in ordentlichen Büscheln mit kerzengeraden Stängeln. Selbst jetzt noch, im Spätsommer, haben die Mimosen Neuigkeiten für mich. Aus Jessamines Gemüsebeet am Haus, von den Lilien auf dem Altar in der Kirche, von der Schafweide an den Hängen von Hulne Park, von der Prunkwinde an ihrem Fenster – hin und wieder schicken sie Nachricht, die sie geflüstert von einer Pflanze zur andern weitergeben, bis sie mich erreicht.
Jedes Mal ist es das Gleiche.
Sie lebt. Der Ausdruck in ihren Augen hat sich verändert – früher waren sie von einem sanften, vertrauensseligen Blau, aber jetzt haben sie die Farbe von Eis. Sie hält sich sehr gerade, fast trotzig. Aber sie lebt und sie ist gesund.
Wenn es anders wäre, wäre Thomas Luxton schon ein toter Mann. Aber solange es ihr gutgeht, werde ich mich in mein Schicksal fügen. Ich werde Oleanders Befehl befolgen und ihr fern bleiben. Ich werde wie ein Tier leben. Oder wie ein Bettler. Ich werde mein Leben unter Pflanzen verbringen. Oder allein. Es spielt keine Rolle. Solange sie in Sicherheit ist.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«, frage ich mit freundlicher Stimme.
Die Mimosen geben keine Antwort.
»Wie geht es Jessamine?«, will ich wissen. »Wo
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