Die Poison Diaries
andere Handwerker gibt und auch ein paar halbseidene Figuren wie Rye. Nicht nur Pferdehändler, sondern auch Schmuggler, die Waren auf dem Schwarzmarkt feilbieten – Salz, Tee und Tabak – für all jene treuen Untertanen von König George, die die Steuern entweder nicht bezahlen können oder nicht wollen. Es sieht ganz so aus, als ob diese Gesetzlosen nicht nur zu ihrer eigenen Bequemlichkeit mit uns reisen würden – sondern auch zu unserem Schutz! Sie begleiten uns, ohne dafür bezahlen zu müssen. Als Gegenleistung für Kost und Logis verteidigen sie uns gegen Diebe und Räuber.
Die Wagenräder sind wieder frei und die Reise kann weitergehen. Der Nachmittag schleppt sich in unbarmherziger Hitze und unerträglicher Enge dahin. Das
Klipp-Klapp
von widerstrebenden Pferdehufen und das Knirschen und Quietschen der Wagenräder vermischen sich zu einer schrägen, eintönigen Melodie, die uns auf unserer Reise unaufhörlich begleitet.
Ich komme mir wie im Fegefeuer vor, nur dass diese Qual irgendwann ein Ende hat. So wie Rye vorhergesagt hat, ist es schon stockdunkel und beinahe neun Uhr, als wir vor dem Gasthof in Newcastle halten. Dort erwartet uns ein Abendessen. Bei der Mahlzeit bleibe ich für mich und verspeise schweigend, was mir auf einem kleinen Zinnteller gereicht wird: Kartoffeln und ein Klumpen Fleisch, der längst kalt geworden ist.
Die Geschmacklosigkeit des Essens kümmert mich nicht. Ich esse nur, um am Leben zu bleiben. Jetzt, da wir uns in einem Gasthaus befinden, wo Menschen kommen und gehen und von wo aus Klatsch und Tratsch in alle Himmelsrichtungen getragen werden, spitze ich wieder die Ohren. Und wie ein Insekt, das sich nur an einer einzigen Pflanze gütlich tun will, lausche auch ich nur auf ein einziges Wort:
Mord … Mord … Mord …
Nichts. Noch nicht. Die Männer verlangen nach Gin und streiten über Politik, über die Katholiken, die Franzosen und den König. Die Frauen halten sich an Dünnbier und klagen über schlechte Geschäfte und noch schlechtere Ehemänner. Niemand erwähnt einen Doppelmord in der Nähe von Alnwick oder ein gesuchtes Mädchen. Gut.
Der Tag war lang, besonders nach einer schlaflosen Nacht, und die Bedrohung ist mir noch nicht auf den Fersen. Mein Teller ist leer und ich gönne mir ein Glas Ale. Ich könnte hinauf in meine Kammer gehen. Ich habe mehr bezahlt, damit ich allein schlafen kann. Aber die Hitze dieses Tages ist einer kalten Nacht gewichen, und ich weiß, dass ich frieren werde, wenn ich diesen großen Raum mit dem lodernden Feuer im Kamin verlassen werde. Trotzdem werden mir die Augenlider schwer. Wenn ich mich nicht bald zurückziehe, schlafe ich hier auf meinem Stuhl ein.
»Salaam.«
Ich schrecke auf; anscheinend bin ich tatsächlich eingedöst. Vor mir steht ein Mädchen mit einem Butterbrot in der Hand. Einen Moment lang weiß ich nicht, wo ich bin oder ob ich träume. Sie ist jung und außergewöhnlich hübsch, aber ich habe jemanden wie sie noch nie zuvor gesehen, außer in einem Buch mit arabischen Märchen, das ich als Kind gelesen habe. Sie hat olivfarbene Haut, Augen so schwarz wie Onyx und lange Haare, so glatt wie der Schweif eines Pferdes.
Das Mädchen starrt mich ganz unverblümt an. Was soll ich tun? Die Vorstellung, dass ich mich munter mit ihr unterhalten soll, als ob ich eine tugendhafte Frau wäre, und ihr irgendeine erfundene Geschichte unterjubele, erfüllt mich zum ersten Mal seit meiner Flucht aus Hulne Abbey mit Panik. Ich fühle mich ertappt. Schuldig. Wo ist die gnadenlose Stärke, die Zielstrebigkeit, die mich noch vor zwölf Stunden aufrecht gehalten hat? Der unschuldige Blick dieses Kindes wäscht alles weg, genauso wie sich die gefrorene Oberfläche eines Sees der Frühlingssonne ergeben muss.
»Salaam.«
Ich kenne das Wort nicht, aber sie scheint eine Antwort zu erwarten.
Es ist zu spät, um mich zurückzuziehen. Ich nicke ihr freundlich zu und rücke ein wenig zur Seite, um auf der Bank Platz für sie zu machen. Sie aber bleibt vor mir stehen und redet mit höflichen Sätzen in einer fremden Sprache auf mich ein.
»Es tut mir leid. Ich spreche deine Sprache nicht.« Meine Angst wandelt sich in Erleichterung. Wenn ich Glück habe, spricht sie auch nicht meine Sprache und ich bin sie schneller los, als ich erwartet habe.
Aber sie lächelt schüchtern und sagt in vollkommenem Englisch, das mit einem melodischen Akzent gewürzt ist: »Bitte entschuldigen Sie, Miss. Ich dachte, Sie wären vielleicht eine
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