Die Poison Diaries
es und esse dankbar. »Ich heiße Rowan«, sage ich. Mittlerweile habe ich beinahe vergessen, dass es nicht die Wahrheit ist.
Kapitel 7
D ie Tage auf unserer Reise gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Noch vor Sonnenaufgang laden wir unser Gepäck, fahren den ganzen Tag lang und kehren bei Einbruch der Nacht in einem Gasthof ein. Die Unterkünfte sind bescheiden, und wegen der Flöhe schlafe ich in all meinen Kleidern.
Jeden Tag festigt sich meine neue Identität mehr. Ich habe den hartnäckigen Fragestellern weisgemacht, dass ich mit feinen Stickereien handele und dass ich all meine Ware verkauft habe. Jetzt bin ich unterwegs nach London, um mir dort Arbeit als Näherin zu suchen.
Wohin ich wirklich reise, weiß ich selbst nicht.
Geduld
, wispert Oleander in meinen Träumen,
Geduld, mein Liebchen. Tu, was ich dir sage, und ich werde halten, was ich dir versprochen habe.
Ich gehorche, was für eine Wahl habe ich denn? Ich verstelle mich, bin Rowan, und lege so viele Meilen wie möglich zwischen mich und mein Verbrechen. Ich lebe für den Tag, an dem Oleander mich zu Weed führt.
In der Zwischenzeit halte ich mich so weit es geht von den anderen fern, ohne allzu sehr den Anschein von Überheblichkeit zu wecken. Trotzdem bestürmt man mich mit Fragen: Wieso muss es ein hübsches junges Mädchen wie ich wagen, allein zu reisen, wo doch an jedem Kreuzweg Diebe und Schurken lauern? Wo ist meine Familie? Warum habe ich keinen Ehemann? Hat mich meine Familie verstoßen? Wurde ich entehrt?
Ich blicke nur traurig zu Boden und gebe keine Antwort.
Wenigstens lässt Rye mich in Frieden. Er hat es satt, im Wagen zu sitzen, und geht deshalb freiwillig neben den Pferden her. Er unterhält sich oft stundenlang mit ihnen. Sie scheinen seine Gesellschaft zu mögen und drehen immer ein Ohr zu ihm hin.
Manchmal, bevor ich mich in die spärlich möblierte Kammer zurückziehe, in der ich die Nacht verbringe, kommt er in die stille Ecke geschlendert, wo ich meine Abendmahlzeit eingenommen habe. Er schenkt mir ein Kompliment, und hat immer ein kleines Präsent für mich dabei: eine Scheibe Brot oder ein Glas mit Dünnbier. Manchmal setzt sich auch Maryam zu mir und leistet mir beim Essen Gesellschaft. Dann bringt sie ein Stück Kuchen mit.
Selbst diese kleinen Aufmerksamkeiten bleiben nicht unbemerkt. Gerade heute Morgen, als wir in die Kutsche einstiegen, hörte ich, wie Agnes, eine dürre Witwe, die schön gefärbtes Garn verkauft, das sie selbst spinnt, ihrer Begleiterin erzählte, ich hätte den Pferdehändler verhext. Die andere Frau schnaubte und behauptete, Agnes wäre bloß eifersüchtig.
Ich kann nicht mehr viel länger bei dieser Gruppe bleiben.
***
Am Samstag übernachten wir in einem kleinen Gasthaus namens
King’s Head
. Das Gesetz verbietet uns, sonntags zu reisen, daher besteht keine Notwendigkeit, morgen früh aufzustehen. Wir werden die Nacht und den morgigen Tag in diesem Ort verbringen und am Montag unsere Reise fortsetzen.
Das besagte Gesetz soll eigentlich den Menschen zur inneren Einkehr verhelfen und ihnen Zeit zum Beten geben. Stattdessen ist es eine willkommene Gelegenheit zu einer feucht-fröhlichen Abwechslung, nach all der Eintönigkeit unserer Reise. Nachdem unsere Reisegesellschaft das Gepäck abgeladen und etwas gegessen hat, nehmen Feiern und Zechen ihren Anfang.
Montag, denke ich, während ich zusehe, wie das Ale in Strömen fließt. Am Montag werde ich mich von meinen Reisegefährten trennen. Sie werden vor dem Morgengrauen aufbrechen, und ich werde mir einfach eine andere Kutsche suchen, vielleicht unter einem anderen Namen.
Das fröhliche Treiben wird bis tief in die Nacht dauern. Fast alle meine Reisekameraden haben sich versammelt, die vollen Becher in der Hand, und bilden mit ihren Stühlen einen Halbkreis um das Feuer. Erst werden reihum Witze erzählt. Dann wird frisch eingeschenkt, gefolgt von noch mehr Witzen.
Die Anekdoten werden immer vulgärer. Als der ganze Saal wieder einmal in lautes Gelächter ausbricht, sehe ich Maryam, deren Gesicht rot und heiß aussieht. Sie fragt ihre Mutter nach der Bedeutung der Worte, die jedoch den Kopf schüttelt und ihrer Tochter sagt, sie solle sich darum nicht kümmern.
Nun stimmt einer der Kupferschmiede ein lustiges Lied über den größten Bock an, der jemals auf dem Markt in Derby verkauft wurde – ein Bock, der so mächtig war, dass er sogar die Sonne verdeckte. Das Lied hat einen unsinnigen Refrain, der mit jedem Mal lauter und
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