Die Poison Diaries
wilder gesungen wird.
Daddle-i-day, daddle-i-day!
Fal-de-ral, fal-de-ral, daddle-i-day!
Jemand verlangt nach einer Gespenstergeschichte, und die Geschichtenerzähler fühlen sich befleißigt, ihre jeweilige Erzählung immer ein bisschen unheimlicher und schrecklicher zu gestalten als die zuvor dargebrachte. Ich winke dankend ab, als ich an der Reihe bin, und täusche Schüchternheit vor. Wenn sie wüssten, welche Schrecken ich zum Besten geben könnte! Es ist besser, wenn ich schweige.
Nach meiner Verweigerung ist Maryams Vater an der Reihe. »Die Geistergeschichten Persiens sind zu entsetzlich, als dass sie hier wiederholt werden könnten«, behauptet er und erntet damit ungläubiges Gelächter und Pfiffe. »Ich werde euch stattdessen eine wahre Geschichte erzählen. Vollkommen wahr, das kann ich euch versichern. Marco Polo, der Held vergangener Tage, sah diese Dinge mit eigenen Augen. Habt ihr jemals von den Assassinen gehört?«
Das Wort allein scheint eine gewisse Macht auszuüben, denn sofort legt sich Schweigen über den Saal. Der Teppichhändler schaut zu seiner Tochter. Maryam hat sich an die Schulter ihrer Mutter gelehnt und schläft schon halb. Leiser fährt er fort: »Die Assassinen waren eine Bruderschaft von ausgebildeten Mördern. Ihre Opfer waren Könige. Generäle. Anführer und Herrscher. Ihr Beweggrund war Macht, ausschließlich Macht. Ihre Messer hatten Klingen aus geschliffenen Diamanten, und ihre Stärke war ihre Lautlosigkeit und Geschicklichkeit – wie Schlangen. Niemand hörte ihr Kommen. So still wie Schatten waren sie, und ihre Dolche verfehlten niemals ihr Ziel.«
Ich versuche, mich auf die flackernden Flammen zu konzentrieren, auf das Glas in meiner Hand – auf alles andere, nur nicht auf die Geschichte des Teppichhändlers, die alle in ihren Bann geschlagen hatte.
»Einige behaupten, die Assassinen seien von Geburt an aufs Töten trainiert worden. Einige sagen sogar, sie seien eigens dazu gezüchtet worden. Sie töteten nicht nur mit Dolchen, sondern auch mit Hilfe von Gift. Sie lebten und trainierten in einer Festung aus Fels, hoch oben in den Bergen, und sie dienten einem Herrn, den sie nur
den Alten
nannten.«
Eine Pfeife wird herumgereicht. Der Rauch hat einen fremdartigen, süßen Duft. Ich versuche ihn nicht einzuatmen, und doch es dauert nicht lange, bis sich meine Zunge dick und geschwollen anfühlt. Alles kommt mir merkwürdig langsam vor.
Vorsichtig stelle ich mein Glas ab. Das Gefühl, das ich empfinde, gefällt mir nicht. Es erinnert mich an die Zeit, als ich krank war – ein hilfloser Spielball, gefangen in einer unbekannten und schreckenerregenden Welt zwischen hier und anderswo.
Hör genau zu, mein Herz. Hör zu und lerne …
»Gibt es diese Assassinen immer noch?«, will einer der jüngeren Männer mit einem bewundernden Unterton in der Stimme wissen.
»Das weiß niemand«, antwortet der Teppichhändler. »Einige meinen, sie seien vor Jahrhunderten ausgerottet worden, vernichtet von ihren Feinden. Und ihr könnt sicher sein, dass sie viele Feinde hatten. Andere sagen, dass sie immer noch unter uns sind und die Geschicke ganzer Nationen bestimmen, so gefährlich und tödlich wie eh und je.«
»Und was glaubst du?«
Er beugt sich vor, und der Flammenschein wirft zuckende Schatten über sein Gesicht. »Spielt das eine Rolle? In jedem Land, in jeder Zeit gab und gibt es Menschen, die für Macht töten, nicht wahr? Selbst hier in England.« Er breitet die Arme aus. »Egal, welche Gestalt sie annehmen, egal, wie sie sich nennen, diese Menschen sind die Erben der Assassinen. Und es wird keinen Frieden auf Erden geben, solange solche Meuchelmörder auf ihr wandeln.«
»Hört, hört!«, ruft jemand. Gläser werden erhoben und alle tun ihre Zustimmung mit der Erzählung kund. Die Geschichte des Teppichhändlers hat der Gruppe gefallen, aber sie hat die Leute auch in eine ernstere Stimmung versetzt.
Mittlerweile sind meine Glieder bleischwer. Ich zwinge mich aufzustehen und in Richtung der Treppe zu wanken.
»Weil wir gerade von Mördern sprechen«, sagt eine der Frauen in das Gespräch hinein – es ist Agnes’ Freundin, glaube ich. »Es war heute auf dem Markt das einzige Gesprächsthema. Ich wollte sehen, wie der Preis für Garn in diesem Teil des Landes liegt, deshalb ging ich hin. Wie auch immer, da gab es einen Mord in irgendeinem entlegenen Haus, in der Nähe von Alnwick.«
Durch das Bier und den süßen Rauch habe ich das Gefühl, neben mir zu
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