Die Poison Diaries
stehen. Der Keller ist nicht feucht und modrig, wie üblich, sondern sauber und trocken. Es riecht ganz schwach, aber nicht unangenehm, nach vergorenen Trauben.
»Früher war das ein Weinkeller.« Die Signora hält die Kerze hoch, um uns den Weg zu leuchten. »Hier stand die Kelter und entlang dieser Wand waren die Eichenfässer aufgereiht, in die der Wein abgefüllt wurde. Als beschlossen wurde, die Sammlung hierherzubringen, ließ mein Großvater den Keller vergrößern und abdichten. Es wurde eine Belüftung eingebaut, damit frische Luft zirkulieren kann. Darüber hinaus wurden Lampen angebracht, und eine Menge verschließbarer Türen.« Sie stößt ein kurzes Lachen aus. »Dies ist ein sicherer Ort, um Wertsachen unterzubringen, kein Zweifel. So sicher wie die Schatzkammer von König Midas.«
Mit einem großen Schlüsselbund in den Händen führt sie mich durch ein unterirdisches Labyrinth, schließt eine Tür nach der anderen auf und verschließt sie hinter uns wieder. »Wir sind fast da«, sagt sie leise, obwohl uns hier unten niemand belauschen kann. Sie steckt den Schlüssel in ein glänzendes Schloss, und schließlich öffnete sich die letzte der schweren Eichentüren. Signora Baglioni entzündet alle Lampen in dem Raum, bis das fensterlose unterirdische Gewölbe taghell erleuchtet ist.
Der Raum ist größer, als die Ausmaße des Hauses es vermuten lassen. An den Wänden entlang stehen Bücherregale und Vitrinen mit Gegenständen, die mir fremd sind – kleine, dickbauchige Figuren, getrocknete Blätter und Nüsse, detaillierte Zeichnungen von Pflanzen und Gegenstände, mit denen ich überhaupt nichts anfangen kann.
Signora Baglioni deutet auf die Regale. »Einige dieser Bücher sind wissenschaftliche Werke, ganz ähnlich wie das von Mr. Luxton, allerdings ohne mörderische Absichten. Diese Sammlung wurde aus der ganzen Welt hier zusammengetragen. Einige Artefakte sind Tausende von Jahren alt.«
»Thomas Luxton hat sein Leben lang nach diesen Büchern gesucht«, sage ich und betrachte die uralten, brüchigen Lederrücken.
»Seinem Tagebuch ist zu entnehmen, dass er sich alle Mühe gab und jegliche Skrupel über Bord warf, um sein Wissen zu mehren – auch ohne Bücher. Prinzipiell habe ich natürlich nichts gegen Experimente an Menschen – solange diese Menschen bereits tot sind«, erklärt sie. »Haben Sie von dem Anatomiesaal der Universität gehört? Dort werden Sezierungen vorgenommen. Von der medizinischen Abteilung. Sie verwenden Bären, Affen, Hunde und natürlich auch menschliche Leichen, wenn das Wetter kühl genug ist. Manchmal machen sich die Studenten einen Scherz daraus, am Abend vor einer Sezierung die Leiche zu entführen, sie herauszuputzen und mit ihr in einer Gondel spazieren zu fahren.«
Missbilligend und gleichzeitig leicht belustigt schüttelt sie den Kopf. »Wie ich bereits sagte: Das Wissen, das hier versammelt ist, umfasst etliche Jahrhunderte und sämtliche Kontinente. Aber alle Bücher und alle Gegenstände hier haben eins gemeinsam: Die Erkenntnis, dass ohne Pflanzen kein Leben auf der Erde möglich wäre. Pflanzen sind Nahrung, für uns und für unsere Tiere. Ohne sie würden wir verhungern. Pflanzen besitzen auch die Macht zu heilen und zu töten. Aber sie sind mehr als nur nützliche Mittel zum Zweck. Sie sind selbst von Leben erfüllt. In vielen Kulturen glaubt man, dass Pflanzen eine Seele haben. Einige werden sogar als Götter verehrt. Heutzutage und hierzulande, in der Welt und der Zeit, in der wir leben, ist vieles davon in Vergessenheit geraten. Aber nicht alles.«
Sie wartet und schaut mich an, um mir Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Ich spüre, dass sie sich wünscht, ich würde etwas zu ihrer Geschichte beitragen, würde zugeben, was sie bereits ahnt. Aber ich sage nichts, denn ich habe das unbändige Verlangen, eine Erklärung für meine Existenz aus ihrem Mund zu hören.
Die Signora spricht weiter, wobei sie mich von Regal zu Regal, von Vitrine zu Vitrine führt.
»Die Eingeborenen der Inseln im Indischen Ozean glauben, dass der erste Mensch – den wir Adam nennen – aus einem Bambusstamm entsprungen ist, wie diesem hier. Sehen Sie sich diese Zeichnung an, Weed: Das ist Asvattha, der Weltenbaum. Die Upanishaden, die alten Schriften Indiens, nennen ihn das Fundament unserer Welt. In vielen anderen Kulturen gibt es ähnliche Geschichten über einen Weltenbaum. Hier, schauen Sie sich das an.«
Sie geht mir voraus zur nächsten Vitrine und deutet
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