Die Poison Diaries
auf einen Lederbeutel mit einem langen Riemen, der mit dünnen Schnüren aus Tierhaut zusammengenäht und mit gemalten Mustern und aufgestickten Muscheln und Federn verziert ist.
»Was ist das?«
»Eine meiner jüngsten Errungenschaften. Man nennt es Medizinbeutel. Er stammt von den Ureinwohnern Nordamerikas. Ein faszinierendes Volk, das in der Verwendung von Heilpflanzen überaus bewandert ist. Sie halten die Natur ebenfalls für etwas Göttliches. Das geht sogar so weit, dass sie die Vorstellung, ein Mensch könnte Land
besitzen
, weit von sich weisen. Stellen Sie sich vor, wie viele Kriege sich durch eine solche Einstellung hätten verhindern lassen!«
Verwirrt frage ich: »Und das ist der Grund, warum diese Information geheimgehalten werden muss?«
»Es ist Ketzerei, Weed«, erklärt sie. »Wir leben in seltsamen Zeiten. Das Jahrhundert neigt sich dem Ende zu, und die Leute haben Angst. Welche unbekannte Zukunft liegt vor uns? Überall ist die Welt im Wandel. Der Geist der Revolution verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Eure amerikanischen Kolonien haben sich bereits von ihrem Mutterland gelöst. Jetzt ist Frankreich ihrem Beispiel gefolgt und hat die Monarchie abgeschüttelt. Manche sagen, dass England als Nächstes dran ist.«
Ich schließe die Augen, aber ich kann die Erinnerung an den Prediger nicht auslöschen, den ich an der Kreuzung umgebracht habe – meine Hände, die sich um seinen Hals schlossen, während er um sein Leben bettelte –
Bereuen Sie, denn das Ende ist nah …
Die Stimme der Signora reißt mich aus der Vergangenheit in die Gegenwart. »Die Idee, dass wir Menschen nicht die rechtmäßigen Herrscher über diese Erde sind, sondern nur eine Art von denkenden und fühlenden Kreaturen – eine unter vielen, von denen alle beseelt sind! – verändert die ganze Sichtweise auf das Menschsein im Allgemeinen. In Ihrem Land gibt es einen Chemiker, einen gewissen Dr. Priestley. Ich verfolge sein Werk aufmerksam. Seine Experimente legen die Vermutung nah, dass die Pflanzen sogar die Luft produzieren, die wir atmen.« Sie wirft die Arme in die Luft. »Pflanzen erschaffen die Luft! Begreifen Sie, was das bedeutet? Unsere Nahrung, unsere Luft, unser aller Leben hängt von den Pflanzen ab. Wie können sie dann nicht von göttlicher Herkunft sein, nicht von göttlicher Intelligenz? Wie können wir ihnen ihren rechtmäßigen Status verweigern, wenn sie doch – auf eine grundlegende Art und Weise – nicht weniger wert sind als Sie oder ich?«
Ich dachte, es würde mir ein Trost sein, sie all diese Dinge aussprechen zu hören, die ich mein Leben lang als unaussprechlich in meinem Herzen gehütet habe. Stattdessen bekomme ich es mit der Angst zu tun. Warum fürchten sich die Pflanzen dermaßen vor Oleander, dass sie nicht einmal über ihn reden oder seinen Namen aussprechen wollen?
»Was ist mit Jessamine?«, frage ich.
»Die Sammlung lehrt uns jedoch auch, dass die Natur kein Engel ist«, sagt Signora Baglioni ruhig. »Neben all dem Guten gibt es eine dunkle Seite. Selbst die Natur birgt Teufel in sich: Vulkane, die Asche in die Luft spucken und das Licht auslöschen; Fluten, die alles Leben hinwegspülen und die Welt zwingen, von vorne anzufangen. Die Shinto-Priester in Japan würden sagen: »Die sanfte Brise, die uns im Sommer Kühle zufächelt, ist ebenso der Wirbelsturm, der alles zerstört.«
»Die Pflanze, die heilt, kann auch töten.« Ich schließe meine Augen und fühle den kalten Schatten des dunklen Prinzen über mich hinwegziehen. »Alles ist im Gleichgewicht.«
Sie nimmt ihren Schlüsselring und schließt eine der Vitrinen auf. »Ja. Es gibt ein Gleichgewicht, aber dieses Gleichgewicht ist empfindlich und kann zerstört werden. Darf ich Mr Luxtons Tagebuch für diese Sammlung haben?« Ich reiche es ihr und bin froh, das üble Ding endlich loszuwerden. Signora Baglioni legt es in die Vitrine. »Ich werde es morgen katalogisieren. Für heute reicht mir die Gewissheit, es hinter verschlossenen Türen zu haben, wo niemand es finden kann.«
Sie steckt den Schlüsselbund ein und wendet sich mir zu. »Als ich in meinem schönen Garten saß und dieses Schreckensbuch las, während Sie schliefen, dachte ich: Hier in Padua ist die Luft mild und die Bienen summen vor Zufriedenheit, aber in einem windgepeitschten Winkel Englands hat ein Mann mit einem abgrundtief bösen Herzen einen fürchterlichen Garten erschaffen, in dem das Gleichgewicht der Natur gestört ist und die Wirbelstürme
Weitere Kostenlose Bücher