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Die Portugiesische Reise (German Edition)

Die Portugiesische Reise (German Edition)

Titel: Die Portugiesische Reise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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der Welt, fährt der Reisende zwischen Bergen und Wäldern hindurch, hierhin kann ihm der Fremdenführer nicht folgen, denn er war vorsichtig genug, ihm nicht zu erzählen, wohin er fährt. Jetzt geht es hinunter zum Rio Vouga, dessen klares Wasser sich seinen Weg zum Meer bahnt und sich kurz davor zu jener riesigen Lagune ausbreitet, an die sich der Reisende mit dem vagen Gefühl erinnert, dort etwas vergessen zu haben, was immer das auch gewesen sein mag, vielleicht ein still liegendes Boot, den Flug einer Möwe, einen leichten Nebelschwaden in der Ferne. Aber hier, wie gesagt, ist Wald. Die Straße macht Kurven, führt hier und da ein wenig bergauf oder bergab, aber nicht viel, und in diesen landschaftlichen Verhältnissen stellt der Reisende fest, dass es eine ungewöhnliche Situation ist, so durch die Berge zu fahren: Weder sind sie zu nah noch zu weit entfernt, wir sehen sie, und sie sehen uns.
    Während der Reisende diese Entdeckung macht, bemerkt er plötzlich, dass neben ihm ein kleiner Fluss verläuft. Es ist der Rio Mel (dt. Honig), ein Sturzbach, der über die Steine springt, zwischen grünen Hängen, an den Berg gebauten Häusern, weiter oben gelegenen Bäumen und Felsen, die sich gegen den blauen Himmel abzeichnen. Dieser Rio Mel ist etwas Wunderbares, sowohl für die Beira als auch für die ganze Welt. Der Reisende kennt sich aus mit Flüssen, hier der Tejo, da der Douro, der Mondego fließt durch Coimbra, die Seine durch Paris, der Tiber durch Rom, und hier schließlich gibt es einen Fluss mit dem Namen von etwas Süßem, mit wunderbarem Wasser, frischer Luft und grünen Gärten, die von Schiefermauern gestützt werden. Wenn der Reisende könnte, würde er bis zum Abend hier sitzen bleiben.
    Aber diese Gegend übertreibt es. Nach dem Mel kommt schon der Paiva, der noch tiefer ist und umgeben von Bergen, auf denen die Straße bis hinauf nach Castro Daire verläuft. Fehlt den Bewohnern hier auch einiges von dem, was das Leben lebenswert macht, an einem schönen Ausblick mangelt es ihnen nicht, solange dieser Fluss Wasser führt und sie die Berge auf der anderen Seite betrachten können. Der Reisende erkundigt sich nach der Ermida de Paiva und fährt weiter die Straße hinunter bis zum Flussufer und an ihm entlang, so sehr davon abgelenkt, dass er an seinem Ziel vorbeifährt. In Pinheiro sagt man ihm, er müsse wieder zurück, und anhand der Schleifen, die der Fluss beschreibt, sieht es so aus, als befände sich die Ermida auf der anderen Seite. Also kehrt er um, findet die kleine Auffahrt, die zu einem Vorplatz führt, und geht zu Fuß weiter.
    Wieder fließendes Wasser. Der Reisende geht beseelt seines Weges, horcht auf seine Schritte, rechter Hand eine fast senkrechte Bergwand, deren Gipfel außer Sicht ist, linker Hand fällt das Gelände leicht ab, bis hinunter zum Fluss, den man von hier aus nicht sehen kann. Die kleine Kapelle zeigt sich von ihrer Stirnseite. Von weitem wirkt sie wie ein Wohnhaus. Soweit der Rei- sende weiß, wurde sie im 12. Jahrhundert von einem Mönch des Prämonstratenserordens aus Santo Augustinho gegründet. Sein Name war Bruder Roberto. Der Reisende hat herausgefunden, dass der Orden strenge Grundsätze hatte, zum Beispiel durften die Mönche kein Fleisch essen, und er stellt sich vor, wie hart es gewesen sein muss, an diesem vom Rest der Welt abgeschnittenen Ort derlei Abstinenzen zu pflegen und sich nicht gegen die Kälte schützen zu können. Acht Jahrhunderte sind vergangen, und immer noch gibt es Menschen, die frieren oder kein Fleisch anrühren, ohne dass sie sicher sein können, dafür in den Himmel zu kommen.
    Die Maurer im Mittelalter haben im Mauerwerk der Kirchen immer Zeichen hinterlassen, kleine Kürzel, die heute zumeist nicht mehr identifizierbar sind. Hin und wieder kann man eines entdecken, und mit ein bisschen Phantasie kann man sich vorstellen, wie der Maurer vorsichtig, damit es nicht schief wird, mit dem Meißel sein Zeichen in den Stein schlägt. Aber die Ermida de Paiva ist buchstäblich übersät davon, und das stellt den Reisenden vor die Frage: Sind das alles nur die Kürzel von Arbeitern? Wenn ja, waren es tatsächlich so viele Maurer, die an diesem Bauwerk gearbeitet haben, das sich nicht gerade durch ungewöhnliche Größe auszeichnet? Ist das nicht vielleicht eine andere Sprache, eine andere Form von Kommunikation? Wahrscheinlich sind diese Fragen sehr spekulativ und unangebracht, aber es wäre nicht das erste Mal, dass ein bescheidener

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