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Die Portugiesische Reise (German Edition)

Die Portugiesische Reise (German Edition)

Titel: Die Portugiesische Reise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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und bei beiden die Komposition der Figuren und der heitere, konzentrierte Gesichtsausdruck. Drei Medaillons an der Seite des Grabes zeigen Gesichter, die beiden äußeren sind bärtig, das in der Mitte stellt eine Frau oder ein Kind dar. Und da der Reisende Rätseln zugetan ist, auch wenn er sie nicht lösen kann, fragt er sich, warum dieses Gesicht halb unter dem Laken versteckt ist, mit dem Jesus ins Grab gelassen wird. Wäre der Körper schon unten, wüssten wir, wie das Gesicht aussieht. Aber dafür sind wir zu früh gekommen.
    Der Reisende fährt den Weg zurück und dann nach Castelo Rodrigo. Als er den Berg hinaufkommt, sieht er, fast zum Greifen nah, die Serra da Marofa und die wilde Landschaft drum herum. Castelo Rodrigo erinnert mit seinen zylindrischen Türmen von weitem an die spanische Stadt Ávila, und der Reisende, dem überall, wo für Tourismus in Spanien geworben wird, Fotos und Plakate von Ávila begegnen, wundert sich, dass die hiesige Bürokratie es versäumt, die Mauern dieser Stadt ähnlich bekannt zu machen. Und was noch schlimmer ist, als er in den Ort kommt und durch die melancholischen Straßen läuft: Viele Häuser sind verrottet und verlassen. Das Schicksal der Bergstädte scheint es zu sein, dass sie mit der Zeit an Attraktivität verlieren und die jungen Leute hinunter ins Tal ziehen, wo das Leben leichter ist und man eher Arbeit bekommt, aber dass man einfach so zusieht, wie sie sterben, statt ihnen neue Impulse und Energie zu geben, das ist unbegreiflich. Eines Tages wird das Leben wieder mehr Gleichgewicht haben, doch dann wird es zu spät sein, um alles zu retten, was in der Zwischenzeit verlorengegangen ist.
    Zu dieser Tageszeit, an diesem Tag im März, ist Castelo Rodrigo wie ausgestorben. Der Reisende hat kaum mehr als ein halbes Dutzend Menschen gesehen, alle im höheren Alter, Frauen, die vor der Tür Näharbeiten machen, und Männer, die einfach nur vor sich hin starren, als hätten sie gerade entdeckt, dass sie verloren sind. Der eine, der sich des Reisenden annimmt, zieht unter Schmerzen sein Bein nach und sagt immer wieder etwas, das der Reisende nicht versteht. Diese Arbeit ist die einzige, die er noch verrichten kann, und das mehr schlecht als recht. Der Reisende ist auf Reisen, nicht auf der Suche nach düsteren Gedanken, aber sie kommen von allein, sie schweben über Castelo Rodrigo, Trostlosigkeit, unendliche Traurigkeit.
    Das hier ist die Igreja do Reclamador, was, anders als man meinen könnte, kein Name eines protestierenden Heiligen ist. Reclamador ist lediglich eine verballhornte Form von Rocamadour, einem französischen Pilgerort, in dessen Abtei oder deren Ruinen sich die Reliquien des heiligen Amadour befinden sollen und wo es auch eine Kirche gibt, in der angeblich das berühmte Durandal, das Schwert des Roland, Paladin und Großvasall Frankreichs, aufbewahrt wird. Das sind alte Geschichten. Der Grundstein der Igreja do Reclamador wurde zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert gelegt, und wenn aus dieser Zeit auch nicht mehr viel übrig ist, so blieb ihr doch die romanische Atmosphäre, die hier sehr lebendig ist, vielleicht mehr noch als in Belmonte. Diese niedrige Kirche, gedrungen wie eine Gruft und genauso mysteriös, hält allem stand, was später hinzugefügt wurde und sie entstellt hat. Und wäre sie auch bar jeder Verzierung und gäbe es nur den heiligen Sebastian aus Kalkstein und den naiven, volkstümlichen Santo Iago aus Holz, die Fahrt nach Castelo Rodrigo würde sich immer noch lohnen. Es ist, als läge ein Fluch über der Stadt. Dort ist das Wappenschild mit den umgedrehten Elementen des königlichen Wappens, zur Strafe, heißt es, weil die Bevölkerung Partei für Dona Beatriz de Castela gegen Dom João I. ergriffen hatte. Und nicht einmal die Tatsache, dass die Nachkommen als Zeichen ihres Patriotismus im Jahr 1640 den Palast von Cristovão de Moura in Brand setzten, konnte den früheren Fehler wiedergutmachen: Das Wappen war umgedreht und sollte es auch bleiben. Castelo Rodrigo muss selbst sein Wappen umdrehen und ums Überleben kämpfen: Das ist der Ratschlag des Reisenden, mehr kann er nicht tun.
    Als er aus Marialva kam, war ihm dasselbe passiert. Große Eindrücke veranlassen die Menschen, einen Blick in ihr Inneres zu werfen, und so hat er kein Auge für die Landschaft und was es sonst noch zu sehen gäbe. In Vilar Turpim sieht er sich die gotische Kirche und die Grabkapelle von Dom António de Aguilar an. Was einfacher gewesen wäre, wenn

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