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Die Portugiesische Reise (German Edition)

Die Portugiesische Reise (German Edition)

Titel: Die Portugiesische Reise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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sich. Er fährt zurück auf die Straße, vorbei an dem Gebäude, das einmal das Kloster war, und als er an einem Torbogen vorbeikommt, der zu einem Platz führt, erhascht er einen flüchtigen Blick auf eine Statue oder Person, die auf einer Mauer steht. Er fährt zurück, blickt vorsichtig hinein, nicht dass ihn die Person, wenn es denn eine ist, fragt: »Was wollen Sie denn?«, und sieht, dass es eine Statue ist. Dass es ein König ist, erkennt man an der Krone, und dass es ein portugiesischer König ist, am Wappenschild, den er an der rechten Hüfte trägt, obwohl er schwer beschädigt ist. Dieser unbekannte König steckt in voller Rüstung, Schienbein- und Knieschützern, Brustpanzer und Harnisch, trägt aber außerdem Spitzenkragen und geraffte Ärmel. Er stellt sich in Positur für das Foto und blickt den Reisenden gutmütig von oben an, froh darüber, nach seiner Zeit als König jetzt für immer hier stehen zu dürfen, denn da ihm auf seinen Abenteuerreisen die Füße abhandengekommen sind, hat man ihn einfach mit den Stümpfen auf der Mauer befestigt. Er sieht aus wie der König aus einem Kartenspiel, doch in Wahrheit ist er der Gartenkönig. Der Reisende fragt ein paar Frauen, die draußen vorbeikommen und auch nicht zur Hochzeit gegangen sind, seit wann die Figur dort steht. »Schon immer«, lautet die Antwort, die er erwartet hat und auch erhält. Gut. Der Schmetterling, der morgens zur Welt kommt und nachmittags stirbt, kennt den Abend nicht; wer den König hier sah, als er zum ersten Mal hierherkam, für den lautet die ehrliche Antwort: Schon immer.
    Der Reisende hat keine große Lust weiterzufahren. Er fährt umher, mehrmals über dieselbe Straße, kommt wieder nach Ucanha, fährt dann weiter nach Tarouca, wo er die Orientierung verliert, vielleicht wegen der hohen Berge, die plötzlich vor ihm auftauchen und die er auf der Karte nicht zuordnen kann. Ist das noch die Serra de Montemuro oder schon die Serra de Leomil? Endlich findet er, was er gesucht hat, die Kirche São Pedro, wo er ein manuelinisches Grabmal besichtigt, eine Filigranarbeit aus Stein, kleine Säulen und Muster, aber ohne die liegende Statue selbst, was überraschend ist, denn die Verblichenen legten normalerweise großen Wert darauf, den Leuten zu zeigen, wie sie aussahen, als sie ihr Geld ausgaben beziehungsweise irgendjemand anders für sie. Die Kirche ist romanisch, gehört aber nicht gerade zu den schönsten, die der Reisende gesehen hat. So eine Reise ist natürlich auch sehr lehrreich, und mit der Zeit wird man anspruchsvoll. Oder ist der Reisende vielleicht einfach nur müde?
    Wenn ja, ist es mit der Müdigkeit in São João de Tarouca vorbei. Aber bevor er sich den dortigen Kunstschätzen zuwendet, muss er noch erzählen, was ihm passiert ist, als er um die letzte Kurve bog und auf einen Teil seiner Vergangenheit stieß. Man sagt, die Erinnerung trügt; wahrscheinlich war er schon einmal hier und erinnert sich nur nicht mehr daran. Aber der Reisende weiß nicht, was das sein soll, eine trügerische Erinnerung. Man erinnert sich an etwas, das man gesehen hat und im Gehirn speichert. Das kann im Unterbewusstsein schlummern, und man kann sich nicht daran erinnern, aber irgendwann kommt es wieder zum Vorschein und kann »gelesen« werden, und dann sehen wir das, was wir auch damals gesehen haben, ob nun scharf oder unscharf. Die Erinnerung hat immer recht, sie ist niemals trügerisch. Manchmal geraten die Dinge vielleicht durcheinander, wie bei einem Puzzle, das aber tatsächlich bis ins letzte Teil wieder zusammensetzbar ist. Wenn die Menschen in der Lage sind, alle Bereiche ihres Gedächtnisses auszuloten und zu ordnen, dann werden sie auch nicht mehr von einer trügerischen Erinnerung sprechen, obwohl es sehr gut sein kann, dass sie sich gegen diese Fähigkeit zur vollkommenen Erinnerung wehren und das trügerische Vergessen kultivieren.
    Außerdem ist sich der Reisende sicher, nie an diesem Ort gewesen zu sein, noch nie in seinem Leben ist er über diese kleine Brücke gefahren, noch nie hat er dieses ausgehöhlte grüne Ufer und diese Ruine dort gesehen und auch die Bögen des Aquädukts (bei denen er nicht einmal sicher ist, ob er sie diesmal gesehen hat) und die kurze Auffahrt nicht, die zum Kirchenportal führt und auf der anderen Seite hinunter in den Ort.
    Wenn die Erinnerung also nicht trügt und der Reisende behauptet, nie hier gewesen zu sein, dann ist das der Beweis, dass die Seelen wandern, dann gibt es Metempsychose.

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