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Die Portugiesische Reise (German Edition)

Die Portugiesische Reise (German Edition)

Titel: Die Portugiesische Reise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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Mann jeden Tag hier, sieht dieselben Steine, hört dieselben Ausrufe, muss dieselben Antworten auf dieselben Fragen geben, auf dieselben Dinge hinweisen; selbst wenn er ein Heiliger wäre, ein Vorbild an Tugend und Geduld, könnte er nicht vermeiden, dass ihn die ständig wiederholten Worte, die Schritte hin und her, die Gesichter derer, die kommen und gehen, so sehr ermüden. Im Licht solch unerträglichen Leidens sei dem Führer verziehen.
    Das Kloster von Tomar, das ist das Portal, der manuelinische Chor, die Charola , d. h. die Templerkirche, das Große Fenster, der Kreuzgang. Und alles andere. Den Reisenden beeindruckt am meisten von alldem die Charola , wegen ihres Alters, gewiss, wegen ihrer ungewöhnlichen achteckigen Form, ganz fraglos, aber vor allem, weil er in ihr den perfekten Ausdruck der Vorstellung von einem Heiligtum sieht, einem geheimen Ort, zugänglich, doch nicht exponiert, Mittelpunkt und Fokus, um den herum die Gläubigen sich scharen und die zweitrangigen Darstellungen angeordnet sind. Damit ist die Charola strahlende Sonne und Nabel der Welt zugleich.
    Doch jeder Sonne ist es bestimmt, zu verlöschen, und jedem Nabel, zu vertrocknen. Die Zeit nagt mit ihren unsichtbaren, harten Zähnen an der Charola . Hier herrscht ein allgemeiner Verfall, der sowohl Alter als auch Vernachlässigung ausdrückt. Eins der kostbarsten Juwele portugiesischer Kunst verkommt, zerfällt. Entweder kommt schnell Hilfe, oder wir hören den üblichen Klagechor, wenn es zu spät ist. Auf die Bemerkungen des Reisenden hin tritt der Führer aus seinem Turm heraus und erklärt, die Schäden im unteren Teil – Bröckeln, abgeblätterte Farbe – seien hauptsächlich auf die vielen Trauungen zurückzuführen, die hier stattfänden. »Alle wollen sie hier heiraten, dann kommen die Gäste, lehnen sich an die Säulen, steigen auf die Sockel, um besser sehen zu können, und dann machen sie sich einen Spaß daraus, ein Stückchen Farbe abzureißen, womöglich als Andenken.« Der Reisende wundert sich, hat aber schnell eine Lösung parat: »Dann muss man eben die Trauungen verbieten.« Diesen Vorschlag hat der Führer vermutlich schon hunderttausend Mal gehört. Er zuckt die Achseln und schweigt. Seine Miene drückt keinen Überdruss aus, sondern Entmutigung.
    Auf den Reisenden wirkt der Kreuzgang trocken und kalt. Anders gesagt: So, wie Diogo de Torralva, der Erbauer, sich nicht mit dem manuelinischen Stil identifizierte und noch weniger mit dem romanischen oder gotischen, kann auch der Reisende, der mit dem Resultat der historischen Abfolge verschiedener Stile und Geschmacksrichtungen konfrontiert ist, sich von seinem heutigen Standpunkt aus nicht mit diesem romanischen Neoklassizismus identifizieren, und wenn er das begründen soll, sagt er, weil er auf ihn trocken und kalt wirkt. Das ist subjektiv. Na gut, dann ist es das eben. Der Reisende hat ein Recht auf seine Subjektivität, andernfalls wäre die Reise für ihn witzlos, denn Reisen kann nur die Konfrontation zwischen diesem und jenem sein. Doch beruhigen wir uns – es ist keine vollkommene Ablehnung, so wie es auch kein vollkommenes Akzeptieren ist. Aber es gibt etwas im Kreuzgang von Dom João III., an das der Reisende sein Herz verloren hat: die Türen im Erdgeschoss, zwischen den Säulen, mit den Fenstern darüber, ein Triumph der geraden Linien und strengen Proportionen.
    Über das Große Fenster ist bereits alles gesagt worden – vermutlich ist noch alles zu sagen. Man erwarte von dem Reisenden keine weiteren Ansichten. Lediglich die feste Überzeugung, dass der manuelinische Stil nicht wäre, was er ist, wenn die indischen Tempel nicht wären, was sie sind. Diogo de Arruda mag nicht bis nach Indien gesegelt sein, doch steht völlig außer Frage, dass auf den portugiesischen Schiffen Künstler mitfuhren und von dort Skizzen, Zeichnungen, Kopien mitbrachten – ein so ornamentreicher Stil wie der manuelinische hätte nicht im Schatten unserer lusitanischen Olivenhaine entstehen, weiterentwickelt und verfeinert werden können. Er ist ein kulturelles Ganzes, in der Fremde aufgenommen und hier nachempfunden. Möge man dem Reisenden solche kühnen Ansichten nachsehen.
    Doch ist er nicht so kühn, wie er sein sollte. Es fehlt ihm die Courage, Tomar auf den Kopf zu stellen, bis er jemanden gefunden hat, der ihm die Kapelle Nossa Senhora da Conceição aufschließt, die wieder auf seinem Weg liegt – die Erinnerung an das Erdgeschoss des Kreuzgangs lässt ihn nicht los.

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