Die Portugiesische Reise (German Edition)
Vide sei das Sintra des Alentejo, während kein Mensch auf die Idee käme, Sintra das Castelo de Vide der Estremadura zu nennen. Die Bäume um Castelo de Vide sind nicht die gleichen wie in Sintra, und das ist gut so. Denn statt einer nachgeahmten Landschaft haben wir hier eine eigenständige vor uns, unter einem anderen Himmel, mit einem anderen Stadtcharakter und einer anderen Lebensform. Wäre Castelo de Vide ein zweites Sintra, lohnte es nicht, von so weit hierherzukommen.
Von den Kirchen in der Stadt besichtigt der Reisende nur die Igreja de Santo Iago und die Capela do Salvador do Mundo. In beiden bewundert er die Azulejos, in Santo Iago ist das gesamte Innere damit ausgekleidet, das Gewölbe ebenso wie die Seitenwände. Die Kapelle Salvador do Mundo, die ursprünglich aus dem späten 13. Jahrhundert stammt, ist ebenfalls ganz mit Azulejos ausgekleidet, darunter Darstellungen aus dem 18. Jahrhundert, der Flucht nach Ägypten und Zwei Engel in Anbetung der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind . Die Südtür der Kapelle stammt noch vom ersten Bau. Oberhalb des zerbrochenen Türbogens verschweigt ein grob in den Granit geschlagenes menschliches Antlitz, wer es ist und was es hier tut. Es sind solche Lücken, die der Reisende beklagt – dass man dieses Gesicht auf die Bogenspitze gesetzt hat, wird seinen Grund haben, doch wenn wir ihn nicht kennen, können wir nicht erfahren, wer es geschaffen und es gesehen hat. Diese Tür (und desgleichen etliche Skulpturen und Gemälde) ist Teil eines Alphabets, aus dem sich Wörter formen lassen. Bedeutungen zu entziffern ist schon nicht so einfach, noch schwieriger wird es, wenn uns die Buchstaben fehlen.
Ein so reich mit Wasser gesegneter Ort muss einen monumentalen Brunnen besitzen. Da ist er, Fonte da Vila, mit seiner auf sechs Marmorsäulen ruhenden Überdachung und den vier Düsen, aus denen das Wasser läuft. Nur bedauerlich, wie verwahrlost alles ist – die Steine von der Zeit und unpfleglicher Behandlung beschädigt, das Wasserbecken und der Gang ringsherum verdreckt. Der Brunnen von Castelo de Vide steht dort wie verwaist – wenn es Mitleid gibt, möge man sich um diese Steine kümmern, sie haben es verdient.
Der Reisende trinkt Wasser aus der zur Muschel geformten Hand und geht zur Judiaria, dem ehemaligen Judenviertel. Die Straßen steigen steil an, hier stand die Synagoge, der Reisende fühlt sich, als wäre er selbst eine Krippenfigur, bei so vielen schmalen Treppen, Winkeln und Gartenmauern. Die Viertel Judiaria und Arçário sind von unvergleichlicher rustikaler Schönheit. Die Haustürumrandungen sind mit so viel Liebe und Respekt instand gehalten, dass es den Reisenden rührt. Ihre Steine sind Steine aus vergangenen Jahrhunderten, manche schon aus dem 14. Jahrhundert, und Generation auf Generation haben die Bewohner sie wertschätzen und pflegen gelernt. Der Reisende möchte fast glauben, dass in den Testamenten von Castelo de Vide, notariell beglaubigt, zu lesen steht: »Ich hinterlasse meinen Kindern eine Tür, die ungeteilt in der Familie verbleiben soll.«
Marvão ist von Castelo de Vide aus zu sehen, doch von Marvão aus sieht man alles. Der Reisende übertreibt, doch genau diesen Eindruck hat man, wenn man dort noch nicht angekommen ist, noch durch die Ebene fährt und unvermittelt, nun schon näher, der enorm hohe Hügel senkrecht aufzusteigen scheint. Mit seiner Lage in mehr als achthundert Meter Höhe erinnert Marvão an die griechischen Klöster auf dem Berg Athos, die man nur erreicht, indem man sich in einen Korb setzt und an Seilen hinaufziehen lässt, unter den Füßen den Abgrund. Solche Abenteuer sind hier nicht nötig. Die Straße quält sich den Berg hinauf, Kurve um Kurve in einem weiten Bogen um den Berg herum, doch endlich kann der Reisende aussteigen und seinen Triumph genießen. Wenn er jedoch die Gerechtigkeit liebt, muss er, bevor er sich von der weiten Aussicht hinreißen lässt, an die beiden Baumreihen denken, die auf einer Strecke von zwei- oder dreihundert Metern die Straße gleich hinter Castelo de Vide säumen – eine herrliche Allee mit kräftigen, hohen Stämmen, und sollte man eines Tages der Ansicht sein, dass ihr Bäume für den schnellen Straßenverkehr unserer Tage eine Gefahr darstellt, walte Gott, dass man euch nicht fällt, sondern die Straße verlegt. Vielleicht werden künftige Generationen einmal danach fragen, warum hier diese Bäume in zwei so gleichmäßigen, so geraden Reihen stehen. Wie man sieht, ist der
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