Die Portugiesische Reise (German Edition)
befinden sich die Meninos da Graça (Kinder der Gnade). Kinder werden sie liebevoll genannt, denn diese Riesen, die da auf den Pfeilern sitzen, würden zweifellos Angst einflößen, säßen sie nicht so hoch. Diese Kirche Nossa Senhora da Graça hat der Reisende vor Zeiten von innen völlig verfallen gesehen, auf dem Fußboden ragten aus aufgewühlter Erde Steine und Knochen. Jetzt ist sie vorbildlich instand gesetzt, die Steine sind gerichtet, der Fußboden ausgelegt, die Knochen auf den Müll geworfen, der Rest aufgeräumt. Der Reisende findet es so besser, kann aber den früheren Anblick nicht vergessen. Unverändert sind dagegen die Riesen, die von Michelangelo entworfen sein könnten, und auch die schönen Rosetten, sie haben dem Zahn der Zeit widerstanden. Für den Reisenden strahlt diese Kirche, weil sie so anders ist als die meisten religiösen Bauwerke ihrer Epoche, etwas Rätselhaftes aus, so als hätten die Messen, die in ihr zelebriert wurden, mehr mit heidnischen Abwegen zu tun gehabt als mit dem orthodoxen Glauben.
Als der Reisende die Kirche São Francisco erreicht, ist er nahezu erschöpft. Die Straßen von Évora gleichen einer Wüste, nur wenn man gezwungen ist, wechselt man auf die andere Seite. Die Sonne brennt erbarmungslos, als würde die Hitze aus dem Schlund eines Riesenofens geblasen. Wie mögen die Felder aussehen? Das wird der Reisende bald wissen, denn er hat noch eine weite Strecke vor sich, doch erst einmal könnte er durch das große Kirchenschiff von São Francisco wandeln, die Garcia Fernandes zugeschriebenen Gemälde betrachten, den heiligen Bruno aus dem 18. Jahrhundert, aus der Chartreuse stammend, und wenn er will, wenn er am Morbiden oder der franziskanischen Abtötung des Fleisches Vergnügen findet, kann er in die Knochenkapelle gehen, falls er nicht meint, und das tut er, dass diese architektonische Anordnung von menschlichen Überresten, und zwar in solcher Zahl, dass sie keine Gefühle mehr auslösen, ans Obszöne grenzt. Der Reisende hat sie schon einmal gesehen, und deshalb geht er heute nicht dorthin. Er kann den Franziskanermönchen nicht verzeihen, dass er vor sich sieht, wie sie die Kapelle aufs Geratewohl mit Knochen bestückt haben, aus Massengräbern zusammengetragenen Knochen (denn die Gebeine der vornehmen Leute ruhten unter schön bearbeiteten Steinen), wie die besagten Mönche mit aufgekrempelten Ärmeln nach einem Schienbein suchten, das in dieses Loch dort passt, nach einer Rippe, die den Bogen stützt, einem Schädel, der die Wirkung abrundet. Nein, und noch einmal nein. Ihr Knochen, die ihr dort liegt, warum habt ihr nicht rebelliert?
Gehen wir also möglichst Luft schnappen, auch wenn es nicht viel wird, in der Galeria das Damas im Palácio de Dom Manuel. Nutzen wir den Schatten, um uns zu stärken. Der Reisende betrachtet kurz von weitem die Kapelle São Brás mit ihrer Brotknustfarbe, eine maurische Festung mit Zinnen und Türmen, einem großen Vorraum, kein Mensch würde sie als Kirche bezeichnen, wenn dahinter nicht der winzige Glockenturm wäre. Zeit zum Weiterfahren. Es ist die Stunde der schlimmsten Hitze, aber es muss sein. Zu Mittag hat der Reisende inzwischen gegessen, auf der Praça Luís de Camões an der Porta Nova, er dreht noch eine Runde durch die Stadt, durch die Travessa da Caraça, vorbei am Fenster von Garcia de Resende, dem Aquädukt, der romanischen Tür von Dona Isabel. Das halbe Évora hat er nicht gesehen, die andere Hälfte auch nur ungefähr. Doch was den Reisenden beeindruckt – man möge ihm die fixe Idee verzeihen –, ist die Tatsache, dass all das, was er gesehen hat (bis auf die Stadtmauern und den römischen Tempel), zur Zeit des Furchtlosen Giraldo nicht existierte, ja nicht einmal zur Zeit der Aufständischen von 1383. Der Reisende schätzt sich glücklich: Jemand hat einen schönen Ort erobert, um dort dieses Évora zu erbauen, jemand hat es errichtet, jemand hat es verteidigt, jemand hat dafür gekämpft, dass die Dinge so werden und nicht anders, und all das, damit er, der Reisende, sich hier an Künsten und Handwerkskunst erfreuen kann. Im Stillen dankt er dem Furchtlosen, auch wenn er ihm die Enthauptung des Mädchens nicht verzeihen kann, er dankt den Aufständischen von 1383, denen er nichts zu verzeihen hat, und begibt sich auf die Straßen des Alentejo, die ihn erwarten mit verbrannten Stoppelfeldern und brennenden Worten, Arbeit, Land, auch Revolution.
Kein Lüftchen weht, und wehte es, so wäre es noch
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