Die Portugiesische Reise (German Edition)
Jahre 1165. Wie Évora aussah, als Giraldo es eroberte, kann der Reisende sich nicht vorstellen. Wie viele Mauren die Stadt zur Verteidigung hatte, weiß er nicht. Vom relativen Wert dieser Tat kann man sich folglich heute kein Bild machen, wohl aber von ihrer Bedeutung: Évora fiel nie wieder in islamische Hand.
Das sind Geschichten, die jeder Portugiese seit der frühen Schulzeit kennt, doch stünde es dem Reisenden nicht gut an, andere zu erfinden. Im Übrigen, was kann jemand, der nur Geschichten erzählt und Kilometer fährt, in Évora entdecken, was noch nicht entdeckt wäre, oder welche Worte soll er sagen, die noch nicht gesagt worden wären? Dass dies die monumentalste Stadt ist? Und wenn er das sagt, was sagt er damit tatsächlich aus? Dass Évora mehr Denkmäler als jede andere portugiesische Stadt besitzt? Und falls es nicht die meisten besitzt, sind dann die hiesigen wertvoller? Die Apostel an der Kathedrale sind großartig – aber sind sie großartiger oder weniger großartig als die Apostel am Portal von Batalha? Sinnlose Fragen, Zeitverschwendung. In Évora herrscht allerdings eine Atmosphäre wie in keinem anderen Ort; in Évora ist allerdings die Geschichte ständig gegenwärtig in den Straßen und auf den Plätzen, in jedem Stein und jedem Schatten; Évora ist es allerdings gelungen, den Platz der Vergangenheit zu schützen, ohne der Gegenwart Raum zu nehmen. Mit diesem geglückten Urteil fühlt sich der Reisende von der Pflicht befreit, weitere allgemeine Urteile zu fällen, und betritt die Kathedrale.
Es gibt breitere, höhere, prächtigere Kirchen. Aber nur wenige strahlen diesen versammelten Ernst aus. Zwar ähnelt sie den Kathedralen von Lissabon und Porto, doch besitzt sie mehr als diese einen speziellen, individuellen Charakter, einen subtil anderen Ton. Wenn alle Stimmen verstummt, die Orgeln auf beiden Seiten verklungen sind, die Schritte innehalten, hört man aus der Tiefe Musik, erzeugt allein durch die unbeschreibbaren Schwingungen der Säulen und Bögen, der grenzenlosen Geometrie der sich aneinanderfügenden Steine. Als religiöser Raum ist die Kathedrale von Évora ganz und gar menschlicher Raum: Das Schicksal dieser Steine wurde von der Intelligenz bestimmt, sie war es, die sie dem Erdreich entriss und ihnen Form und Sinn gab, sie hat Fragen gestellt und diese mit dem zu Papier gebrachten Bauplan beantwortet. Es ist die Intelligenz, die dafür sorgt, dass der Laternen-Turm stehen bleibt, die die Linienführung des Triforiums harmonisch gestaltet und die Säulengruppen zusammenhält. Man könnte meinen, der Reisende hebe die Kathedrale von Évora zu sehr hervor, preise sie mit Worten, die an etlichen anderen Orten ebenso gerechtfertigt wären wie hier, wenn nicht noch mehr. So ist es. Doch hat der Reisende, der ja schon einiges gesehen hat, nirgendwo sonst erlebt, dass zu einem Bauwerk zusammengefügte Steine so wie hier eine Hochstimmung voller Vertrauen in die Kraft der Intelligenz zu erzeugen vermögen. Sollen doch Batalha, das Jerónimos-Kloster und Alcobaça eifersüchtig sein. Sie sind wunderbar, keine Frage, aber die Kathedrale von Évora, auf den ersten Blick streng und verschlossen, empfängt den Reisenden gleichsam mit offenen Armen, und auf diese erste Reaktion des Gefühls folgt die der Dialektik.
Wahrscheinlich spricht man so nicht über Architektur. Ein Fachmann wird nachsichtig oder irritiert den Kopf schütteln, sich eine sachliche Ausdrucksweise wünschen. Zum Beispiel im Hinblick auf den Laternen-Turm, dass »der Granitkorpus an den Ecken von einem dreilappigen Gesims mit unterteilten Fenstern umschlossen ist, gestützt durch Widerlager und gekrönt von einer schlanken, schindelgedeckten Spitze«. Alles sehr genau und wissenschaftlich, doch abgesehen davon, dass die Beschreibung an manchen Stellen einer zusätzlichen Erklärung bedarf, ist hier nicht der Ort dafür. Es reicht schon, dass der Reisende das Risiko flüchtiger Exkurse in solche Höhen auf sich nimmt. Deshalb halten sich seine gelegentlichen Ausflüge in diese Gebiete an Alltägliches, deshalb vertraut er darauf, dass man ihm seine Fehler nachsieht, und zwar sowohl bereits begangene als auch künftige. Er verwendet seine eigene Sprache, um seine eigenen Empfindungen auszudrücken. Und weil das so ist, gestattet er sich die Kühnheit, die Nase zu rümpfen über Ludovice de Mafra, der auch in dieser Gegend war und dem Ernst eines Gotteshauses, das den geistigen Bedürfnissen einer weniger Pomp
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