Die Porzellanmalerin
Werke über mechanische Erfindungen oder die Mathematik. Außerdem standen die großen Denker hier Seite an Seite: Newton, Leibniz, Descartes, Hume, Locke und Pope. Mehrere Regale enthielten die Klassiker der Antike: Platon, Homer, Cicero, Cäsar, Seneca, Sueton und ihre Zeitgenossen hatten wie die Naturwissenschaftler und Philosophen braune kalbslederne Einbände.
Die Regale, mit denen sich Friederike bisher beschäftigt hatte, befanden sich auf der anderen Seite des Raums. Hier waren
die Komödien von Molière und Marivaux versammelt, die Tragödien von Racine und Corneille, die Schriften des jungen Diderot, die Pamphlete von Voltaire. Shakespeare war mit sämtlichen Werken vertreten, ebenso der Professor Gottsched aus Leipzig. Es gab sogar eine Novität von Herrn Lessing, der noch bis vor Kurzem die Fürstenschule Sankt Afra besucht hatte und einmal in Begleitung Professor Mehlers im Simons’schen Salon erschienen war. Zu Friederikes Lieblingsbüchern zählten die illustrierten Ausgaben von »Tausendundeine Nacht« und »Don Quixote«. Die zierlichen Abbildungen hatten ihr als Vorlage für eigene Zeichnungen gedient. Auch »Gullivers Reisen« und »Robinson Crusoe« sowie Boccaccios »Dekameron«, das sie natürlich nur heimlich gelesen hatte, waren Quellen der Inspiration für sie gewesen.
Friederike schritt die Regale ab, bis sie zu einigen Bänden in vornehmem rotem Maroquinleder kam: Diese Bücher waren noch hübscher und eleganter anzusehen als die anderen. Passend zu ihren Urheberinnen, Mademoiselle de Scudéry, Madame de Sévigné und Madame de La Fayette.
»Und es gibt doch Frauen, die Bücher schreiben!«, schimpfte sie laut. Helbig hatte unrecht gehabt mit seiner Bemerkung, Frauen könnten nicht künstlerisch tätig sein, sondern wären lediglich dazu da, den männlichen Künstler zu inspirieren. Wenn es schreibende Frauen gab, dann gab es sicher auch Malerinnen, Komponistinnen oder Bildhauerinnen, die irgendwo im Verborgenen unsterbliche Werke schufen. Friederike hielt inne: Im Verborgenen, überlegte sie, ja, natürlich, entweder diese Künstlerinnen arbeiteten im Verborgenen, indem sie anonym blieben, sich Pseudonyme zulegten oder ihre Arbeit als die ihrer Brüder oder Ehemänner ausgaben - wie die Scudéry oder auch Madame de La Fayette am Anfang ihrer Karriere. Oder aber sie waren durchaus im Licht der Öffentlichkeit tätig, nur wusste niemand davon, denn sie blieben unerkannt. Weil sie sich verkleideten - als Männer.
Gedankenverloren blieb sie vor dem Regal mit den Reisebeschreibungen stehen. Die Berichte aus fernen Ländern las sie am liebsten. Sie hatte alles verschlungen, was sie an Erfahrungsberichten von irgendwelchen Entdeckern, Abenteurern oder Diplomaten in die Finger bekommen konnte. Waren da nicht auch jede Menge Frauen dabei gewesen, die ihre gefährlichen Reisen einfach in Männerverkleidung angetreten hatten, weil sie sonst zu Hause hätten bleiben müssen?
Da, die »Metamorphosis insectorum Surinamensium«, noch eins ihrer Lieblingsbücher. Die Kupferstiche Maria Sibylla Merians von den Insekten aus Surinam hatte sie schon vor einiger Zeit als Vorlage für das geplante Frühstückskaffeeservice ausgewählt, sie hatte nur noch nicht die Ruhe gefunden, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Auch Maria Sibylla Merian hatte heimlich, in der Dachkammer, angefangen zu malen, wusste Friederike, weil ihre strenge Mutter es nicht gutgeheißen hatte, dass eine Frau sich schöpferisch betätigte.
Endlich erreichte sie das letzte Regal, in dem die Atlanten standen, die mit Abstand größten Bände. Mühsam wuchtete sie den Band mit den Buchstaben E bis F aus der elfbändigen Serie des »Atlas Maior Germania« aus dem Regal und legte ihn auf das Lesepult. Es dauerte nicht lange, bis sie Frankfurt und damit auch Höchst gefunden hatte. Nach Höchst war es weit. Sicherlich über fünfzig Postmeilen. Aber weit weg war auch gut, dachte sie, denn je weiter sie sich von Meißen entfernte, umso größer war die Chance, dass niemand sie finden würde. Sie musste nur irgendwie dorthin gelangen. Es gab mehrere Grenzen zwischen Meißen und Höchst. Sie war noch nie über Sachsen hinausgekommen. Die Entfernung zwischen Meißen und Höchst war sicher vergleichbar mit der zwischen Meißen und Hamburg. Sie erinnerte sich nicht mehr, ob die Hansens erzählt hatten, wie lange sie unterwegs gewesen waren. Aber hatte nicht dieser Weinbauer aus dem Rheingau, dieser Herr Schadt, irgendetwas von einer alten
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