Die Praktikantin
»Ich kann Sie so gut verstehen. Mir wäre fast das Gleiche passiert.« Hatte sie von den entscheidenden Sekunden im roten Blitz gesprochen, in denen sie das Schicksal doch noch hatte wenden können, weg von einer hässlichen Bettszene mit schlimmsten Folgen? Mir wurde schlecht, ich fühlte mich schäbig und wäre in diesem Augenblick bereit gewesen, all meine Ersparnisse für die Gründung einer NFTC-Stiftung (wobei NFTC natürlich für
Never Fuck the Company
steht) herzugeben. Ich musste Elisabeth unbedingt jetzt und sofort sagen, dass ich sie niemals in so eine Situation gebracht hätte, nein, viel mehr, dass es mir gar nicht darum gegangen war, ihre Situation wie auch immer auszunutzen. Sie musste verstehen, dass ich nicht so ein Chef war wie der, über den sie gleich schreiben würde.
Ich öffnete ein E-Mail-Fenster, gab Elisabeths private Adresse bei GMX ein: »Liebe Elisabeth, angesichts Ihrer Erlebnisse am heutigen Tag ist es mir ein Bedürfnis …«
|180| »Herr Walder, ich störe ungern, aber …«
Ich drehte den Bildschirm, so weit es ging, nach links. Elisabeth stand schräg hinter mir. Sie hatte drei A4-Seiten in der Hand.
»Ich wollte Ihnen nur den ersten Teil schon einmal geben. Vielleicht können Sie den redigieren, während ich den Rest schreibe.«
Ich murmelte irgendetwas wie »natürlich, gar kein Problem«, und sie verschwand wieder. Ich beschloss, die E-Mail später in Ruhe zu schreiben. Jetzt wollte ich wissen, wie die Geschichte der Praktikantin weiterging.
Karin Meyer (Elisabeth hatte ihr auch einen ausgedachten Vornamen gegeben, eine selten langweilige Kombination) hatte vor etwas mehr als einem Jahr ein Praktikum bei einem Unternehmen in der Stadt begonnen. Sie wollte nicht sagen, wie es hieß, nicht einmal, aus welcher Branche es stammte. Zuvor hatte sie Angewandte Kulturwissenschaften an einer Uni in Niedersachsen studiert, war, um sich einen Job zu suchen, aber wieder in ihren Heimatort zurückgekehrt. In Wützen konnte sie umsonst in einer Wohnung leben, die ihrem Vater gehörte. Durch dessen Vermittlung hatte sie auch das Praktikum bekommen, von dem sie hoffte, dass es der Einstieg in ihren Traumberuf werden würde.
In der Firma hätte man sich, erzählte Karin Meyer Elisabeth, die
kaum mit dem Notizenmachen hinterherkommt
, wenig um sie gekümmert. Nur einer der Mitarbeiter hätte sich ihr als »Prak tikantinnenbeauftragter « vorgestellt und gesagt, dass sie mit allen Fragen zu ihm kommen könne. Der Rest der Kollegen beachtete sie nicht.
Sie sagt: »Deshalb hat es mich natürlich gefreut, dass ich da
wenigstens einen Ansprechpartner hatte.« Allmählich hat sich ihr Sprachrhythmus normalisiert. »Der Oberboss hat mich ignoriert. Die anderen Angestellten haben gerade mal guten Tag gesagt. Eigentlich hatte ich nur mit dem Praktikantinnenbeauftragten Kontakt.« Nennen wir ihn Herrn Reinhardt. Welche Rolle er in der Firma genau spielt, will sie nicht sagen.
|181| Auf jeden Fall, mindestens so viel bekam Elisabeth heraus, war Herr Reinhardt etwa doppelt so alt wie Karin Meyer. Die war damals gerade 25 geworden.
»In der ersten Woche beließ er es noch dabei, mich zwei, drei Mal am Tag zu fragen, wie es mir in der Firma gefällt und ob er mir helfen könne. In der zweiten Woche führte er eine halbstündige Besprechung ein, in der er mir vor allem erzählte, wie er zu seinem Job gekommen und wie seine Karriere bisher verlaufen war. Und dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, wann er den Sprung ganz nach oben machen werde.«
Elisabeth war dazu übergegangen, nur die Mutter sprechen zu lassen. Die Geschichte wurde zu einem einzigen Zitat.
»Anfang der dritten Woche sagte er mir, dass ich großes Talent
hätte und dass ich in seiner Firma etwas werden könnte. Er wollte wissen, ob ich mich schon anderswo beworben hatte. Ich traute mich nicht zu sagen, dass von den 56 Bewerbungen, die ich abgeschickt hatte, 40 abgelehnt worden waren. Von den restlichen 16 Firmen hatte es gar nicht erst eine Antwort gegeben. Also sagte ich: ›Ich habe gerade erst angefangen, mich umzusehen. Deshalb absolviere ich ja das Praktikum bei Ihnen.‹ Er schien fast erleichtert: ›Machen Sie sich keine Sorgen‹, sagte er, ›ich helfe Ihnen. Gemeinsam finden wir was für Sie.‹«
Drei Tage später lud er seine Praktikantin zum Abendessen ein. Hoffentlich hatte er keine Schwäche für Sambuca.
»Wie hätte ich nein sagen können? Mein Praktikum war erst
zur Hälfte herum, und ich sah erstmals seit
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