Die Praktikantin
neue Flasche, rückt immer dichter an sie heran. Eine halbe Stunde
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später liegt die Hand des Chefs auf ihrem Oberschenkel. Sie trägt einen weißen, kurzen Rock. »Er hat mich langsam gestreichelt, ganz zart. Ich habe getrunken, gelacht und ihn einmal auf die Nase gestupst. Er sah fast süß aus, der alte Kerl, wie er sich an mich drückte und so nebenbei versuchte, meinen Oberschenkel immer weiter hinauf zu kommen.«
Ich wollte nicht verstehen, dass ein Vorgesetzter und Ehemann so etwas machen konnte, und sah mich selbst, wie ich an Elisabeth herumzerrte. Zum ersten Mal merkte ich, dass ich nie wirklich über mein Verhältnis zu ihr nachgedacht hatte. Ich hatte ihre Gegenwart genossen und mich zu keinem Zeitpunkt gefragt, ob es ihr auch so gegangen war. Dass ich mit ihr zusammen sein wollte, reichte mir als Legitimation für unseren Kontakt. Wahrscheinlich ist dies das wirklich Perfide an einer wie auch immer gearteten Beziehung zwischen einem Vorgesetzten und einer Untergebenen: Der Chef überträgt einfach die Herrschaftsverhältnisse vom Beruf auf das Privatleben. Ich schämte mich, öffnete die E-Mail an Elisabeth und schrieb: »… ein Bedürfnis, mich bei Ihnen zu entschuldigen, sollte ich Ihnen in den vergangenen Monaten einmal (oder mehrfach) zu nahe gekommen sein. Ich habe unsere gemeinsame Zeit am Telefon und bei der Besprechung Ihrer Texte immer sehr genossen, manchmal vielleicht mehr, als es mir als Ihrem Vorgesetzten zusteht. Aber ich hatte zu keiner Zeit vor, das Abhängigkeitsverhältnis, das zwischen uns bestand, in irgendeiner Form auszunutzen. Um ehrlich zu sein, und das war sicherlich mein größter Fehler, habe ich Sie mit der Dauer unserer Zusammenarbeit weniger als Praktikantin denn als Vertraute und, entschuldigen Sie noch einmal diese Anmaßung, als Freundin gesehen. Ich …«
Ich musste weiterlesen. Es war gleich halb sieben.
Spätestens nach dem sechsten oder siebten Glas Rotwein merkt Karin Meyer nicht mehr, was mit ihr passiert. Normalerweise trinkt sie höchstens mal eine Weinschorle oder ein Alsterwasser. Sie kann sich nur noch daran erinnern, wie sie in Herrn Reinhardts Arm
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zum Auto torkelt und sie gemeinsam wieder in die Firma zurückfahren, wo ihr Fahrrad steht. »Dort ist es dann passiert.«
O nein.
»Ich hatte meinen Wohnungsschlüssel im Schreibtisch liegen lassen. Herr Reinhardt begleitete mich ins Büro. Als ich die Schublade aufziehen wollte, griff er meinen linken Oberarm, zog mich zu sich und küsste mich. Und dann …« Sie macht eine lange Pause. Die ganze Zeit hat sie mich angesehen oder auf meinen Block geschaut. Jetzt schließt sie die Augen. Wir wissen beide, was kommt. Sie muss es nicht sagen. Ich bin diejenige gewesen, die Clemens gefunden hat. Ich bin es gewesen, die sie gesucht hat. Sie schlägt die Augen wieder auf und sieht mir direkt ins Gesicht: »Unddannhabenwirmiteinandergeschlafen.«
»Herr Walder?«
Elisabeth kam mit den nächsten Seiten.
»Ich bin jetzt fast fertig. Haben Sie schon Gelegenheit gehabt, den Anfang zu lesen?«
Die ersten drei Seiten lagen so auf meinem Schreibtisch, wie sie sie dort hinterlassen hatte.
Ich konnte also nicht lügen.
»Nein, leider noch nicht. Ich musste einen längeren Text von Herrn Batz redigieren.«
Der hatte natürlich mitgehört und schaute irritiert herüber, als würde er denken: Redigieren? Bei mir? Ich bin doch nicht Grainer. Außerdem hatte er seinen Artikel erst vor einer Minute an mich geschickt. Viel konnte ich also noch nicht gelesen haben.
»Okay. Und, Herr Walder …«
Elisabeth zögerte. Sie würde doch nicht hier, vor allen Leuten …
»… kann ich mir ganz schnell etwas vom Bistro holen? Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.«
Ich atmete auf.
»Selbstverständlich hole ich Ihnen etwas. Was möchten Sie denn?«
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»Sie geben mir gar nichts wieder. Das ist ja wohl das Geringste, was ich als Entschädigung dafür tun kann, dass Sie …«
Ich sah die Blicke der anderen gespannt auf mich gerichtet, als würden sie alle die Geschichte der Karin Meyer kennen und von mir erwarten, dass ich mich jetzt bei Elisabeth offiziell dafür entschuldigte, dass es ihr beinahe ebenso gegangen wäre.
»… dass Sie für uns diese unglaubliche Geschichte allein recherchiert und damit den Fall des kleinen Cle…, ich meine Henri quasi gelöst haben. Sind Penne arrabbiata
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