Die Praktikantin
okay?«
»Aber nicht zu scharf, bitte.«
Zwanzig Minuten später stellte ich ihr eine große Portion mit einem kleinen Salat und einem halben Baguettebrot auf den Tisch. Da hatte sie gerade den letzten Satz ihrer »Geschichte der Mutter« (Elisabeths Arbeitstitel, der als Schlagzeile natürlich nicht taugte) fertig.
Am nächsten Tag geht Karin Meyer nicht in die Firma. Sie hat
sich bis zum Morgen drei Mal übergeben. Der Rotwein pumpt immer noch durch ihren Körper, bläst ihren Kopf zu einem gewaltigen Schmerz auf. Sie muss liegen und darf die Augen nicht öffnen, dann kann sie das Leben zumindest ertragen. Sie denkt in diesen Stunden nicht an das, was passiert ist. Sie denkt nicht an Herrn Reinhardt. Karin Meyer ist nicht wirklich auf dieser Welt. Und natürlich denkt sie nicht eine Sekunde daran, dass sie schwanger sein könnte.
Im Unternehmen ist es offensichtlich niemandem aufgefallen, dass die Praktikantin am Freitag gefehlt hat. Als Karin am Montag ins Büro kommt, fragt keiner, wo sie gewesen ist. Sie hat etwas Angst davor, Herrn Reinhardt wiederzusehen. Am Wochenende haben sie nichts voneinander gehört. Auf ihrem Tisch ist die Schreibunterlage leicht verrutscht, der Locher steht schief. Zeugen der stürmischen Minuten, die ihr Chef und sie hier gehabt haben. Richtig erinnern kann sich Karin auch daran nicht mehr. Wohl
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aber an die Stelle, die Herr Reinhardt ihr in Aussicht gestellt hat. Sie will gleich heute mit ihm darüber reden. Schließlich endet ihr Praktikum offiziell in vier Tagen. Da ist es nur vernünftig, zumindest über einen Honorarvertrag zu sprechen. Oder gleich über einen festen Job? Den Oberboss hat Karin schon gesehen. Herrn Reinhardt noch nicht. Wahrscheinlich kommt er später, denkt sie. Oder er hat einen Termin außer Haus. Bei den Chefs weiß man ja nie. Karin schaltet ihren Computer ein.
Doch Reinhardt kommt nicht. Weder um zwölf noch um zwei. Karin wird unruhig. Auch weil sie nicht weiß, was sie tun soll. Bisher hat sie Aufträge immer direkt von ihm erhalten. Als es 16 Uhr wird und die ersten Kollegen die Firma schon wieder verlassen, fragt sie die Sekretärin, ob er heute noch kommen würde. »Herr Reinhardt?«, sagt die. »Der hat doch Urlaub.« Oh, fragt Karin, und wann ist er wieder da? »Ich glaube, erst in drei Wochen.«
Danach geht alles ganz schnell, Karins Praktikum endet wie vorgesehen vier Tage später. Der Oberboss drückt ihr stumm die Hand, die anderen Kollegen nicken bloß. Ein Zeugnis werde Herr Reinhardt ihr nachreichen, wenn er wieder da sei, sagt die Sekretärin. Ihre Adresse habe man ja. Auf Wiedersehen.
Wenige Tage später bleibt ihre Regel aus, die normalerweise so zuverlässig kommt wie der Weihnachtsmann am 24. Dezember. Karin hat bis zu diesem Zeitpunkt angenommen, dass Reinhardt ein Kondom benutzt hat. Sie kann sich nicht erinnern, Spuren von ihm in sich gefunden zu haben. Aber an welches Detail von diesem Abend kann sie sich überhaupt erinnern?
In der Apotheke gibt es den billigsten Schwangerschaftstest für 9,99 Euro. Als dieser positiv ausfällt, kauft Karin den teuersten. Das Ergebnis bleibt gleich. Einen Tag später sagt die Frauenärztin, die ihr vor knapp anderthalb Jahren geraten hatte, die Pille abzusetzen, solange sie keinen Freund habe: »Frau Meyer, Sie sind schwanger.«
Furchtbare Wochen beginnen. Karin kann und will mit niemandem darüber sprechen. Außer mit Reinhardt. Als sie knapp
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zwanzig Tage nach dem Ende ihres Praktikums seinen Wagen erstmals wieder auf dem Firmenparkplatz sieht, ruft sie an. Die Sekretärin würgt sie gleich nach der Begrüßung ab: »Ach, Frau Meyer, ich erinnere mich. Ja, Herr Reinhardt wird in den nächsten Tagen Ihr Praktikumszeugnis schreiben. Wir schicken es dann wie besprochen zu. Auf Wiederhören.«
Sie lauert Reinhardt am gleichen Abend auf dem Parkplatz auf, duckt sich hinter sein Auto. Als er die Fahrertür aufschließt, ist sie auf einmal wie aus dem Nichts da.
»Wir müssen etwas besprechen, Herr Reinhardt.«
»Karin, ich, äh, ich habe leider wenig Zeit«, sagt er. »Dass das mit der Stelle doch nicht geklappt hat, tut mir leid. Ich konnte nichts machen. Wir müssen sparen.«
»Darum geht es nicht, Herr Reinhardt.«
Nicht mehr.
»Fräulein Meyer, ich muss wirklich los. Ich habe noch einen Termin.« Er steigt ein, will die Tür zuschlagen. Karin hält dagegen.
»Herr Reinhardt, ich bin schwanger.«
Er reagiert nicht. Keine Angst in seinen Augen, nicht einmal Überraschung.
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