Die Praktikantin
Nur Gleichgültigkeit.
»Dann sollten Sie mal mit dem Erzeuger darüber reden oder mit Ihrem Freund. Was habe ich damit zu tun?«
»Ich habe keinen Freund, Herr Reinhardt. Ich habe in den vergangenen anderthalb Jahren nur einmal mit einem Mann geschlafen.«
»Genau. Und Elvis lebt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
Reinhardt zieht die Tür zu, lässt den Motor an und fährt rückwärts aus der Parkbucht. Karin kann im letzten Moment verhindern, dass der linke Vorderreifen über ihren Fuß rollt.
Einmal hat Karin Meyer danach noch versucht, mit einem Mann über die ungewollte Schwangerschaft zu sprechen. Doch ihr Vater rastet aus, als er die Geschichte aus der Firma hört und den kleinen Babybauch sieht: »Wenn es so ist, musst du es wegmachen lassen. Diese Schande kannst du mir nicht antun. Meine Tochter
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und der Reinhardt, einer von unseren besten Kunden. Nein, ich will nichts mehr davon hören«, sagt er.
Karin fehlt selbst zum Weinen die Kraft. Vier Wochen später kündigt der Vater ihr die Wohnung. Sie hat Glück, findet das kleine Zimmer im Birkenweg. Die Miete, 315 Euro warm, zahlt sie von ihrem Ersparten. Während der Schwangerschaft verdient sie sich etwas dazu, indem sie Fotos für Schwangerenmode macht – und Telefonsex. Einmal hat sie einen »Freier«, sie nennt die Männer wirklich so, dran, der wie Herr Reinhardt klingt. Da hat sie gesagt: »Stell dir vor, ich liege auf deinem Schreibtisch und spreize langsam die Beine. Ich trage nur einen kurzen Rock und nichts darunter. Du kannst mit mir machen, was du willst.« Sie hat gehofft, dass der Anrufer auflegt. Doch er habe gestöhnt und wie ein Marathonläufer gekeucht: »Ich besorg’s … dir … richtig, du kleine Büroschlampe.«
Es würde später nicht ganz ohne Kürzungen und inhaltliche Umstellungen gehen, um am nächsten Tag einen Sitzstreik sämtlicher Landfrauenverbände der Region vor dem Redaktionsgebäude zu verhindern. Und ein Schreiben des Bürgermeisters an den Presserat. Betreff: »Zunahme perverser, heterosexueller und konservativer Berichterstattung in unserer Lokalzeitung unter der Ägide des gegelten Herrn Walder.«
Clemens kam vor fünf Tagen auf die Welt. Karin Meyer ist allein im Krankenhaus gewesen. Die Geburt hat nur zweieinhalb Stunden gedauert, ein Segen. In der Klinik geht es der jungen Mutter noch gut. Ja, sie habe sich auf ein neues Leben mit ihrem Sohn gefreut. Doch dann, zu Hause, in der engen Wohnung, der Kleine schreit die erste Nacht durch, bekommt sie postnatale Depressionen »oder wie das heißt«. Will selbst schreien ob der Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren ist. Und will all die ignoranten Ex-Kollegen, Nachbarn, Eltern und ihm, dem Vater, zeigen, was sie ihr und ihrem Sohn angetan haben. Für Clemens endet diese Nacht auf den Stufen unserer Redaktion.
»Hier ist die ganze Geschichte.« Elisabeth hatte die kompletten |190| acht Seiten ausgedruckt, legte sie auf meinen Schreibtisch und setzte sich neben mich.
»Wollen wir sie gleich gemeinsam durchgehen?«, fragte sie.
»So wie früher?«, fragte ich.
»So wie früher«, sagte sie, und ich musste an Marie und unsere Marotte denken, auf die Frage des anderen mit dessen Frage zu antworten.
Ich las mir alles noch ein Mal durch, dann ein drittes, für Elisabeth das zweite Mal. Sie protestierte dagegen, die schlüpfrigen Szenen zu entschärfen oder herauszunehmen: »Sonst wird nicht klar, was die arme Frau alles durchgemacht hat, Herr Walder. Haben Sie nicht einmal gesagt: Was wahr ist, muss man auch schreiben können?«
»Ja, aber nicht in einer Familienzeitung. Die Geschichte ist auch so sehr gut, Elisabeth. So ein Stück hat lange nicht bei uns gestanden. Wahrscheinlich noch nie. Sie sollten sich damit unbedingt für einen dieser Nachwuchsjournalistenpreise bewerben. Da können Sie dann meinetwegen zusätzlich die ungekürzte Fassung einschicken. Sozusagen den Director’s cut.«
»Meinen Sie?«
»Ich habe schon preisgekrönte Reportagen gelesen, die schlechter waren.«
»Wirklich? Vielen Dank.«
Wir druckten pünktlich an. Elisabeths Geschichte nahm fast die komplette Titelseite ein, dazu große Teile der Seiten zwei und drei. In den Abendnachrichten des
Westdeutschen Rundfunks
hielt ein Reporter die
Wützener Zeitung
in die Kamera. Eine Weltpremiere! Die Forderung der CDU, im Kreis endlich eine Babyklappe einzurichten, war landesweit über die Nachrichtenagenturen gelaufen. Mit Nennung der Quelle: »… das berichtet die Wützener
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