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Die Priesterin von Avalon

Die Priesterin von Avalon

Titel: Die Priesterin von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley , Diana L. Paxson
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nur diesen Körper zu bieten hatte, der nun schon siebenundsechzig Jahre standgehalten hatte.
    »Wer bist du?«, flüsterte die Priesterin.
    »Ich bin die Sibylle…«, meine Lippen formten die Antwort. »Ich bin immer die Sibylle. In Eretria habe ich gesprochen und in Phrygien, in Samos und Libyen und vielen anderen heiligen Orten im Lande der Menschen. Aber es ist so lange her, seitdem mir jemand in diesem Schrein eine Stimme verliehen hat.«
    »Sprichst du mit Apollons Stimme?«, fragte die Priesterin misstrauisch.
    »Geh in deinen Tempel, der auf der Höhe steht, und öffne die Tore für den Wind und die Sonne, und er wird zu dir sprechen. Aber meine Macht kommt aus den Tiefen und der Dunkelheit der Erde und aus den ewig sprudelnden Wassern der heiligen Quelle. Ich bin die Stimme des Schicksals. Willst du ein Orakel hören?«
    Ein seltsam berührtes Schweigen folgte, dann lachte die Sibylle.
    »Weib, du hast den Göttern ein Leben lang gedient. Warum bist du so überrascht, dass eine Macht zu dir spricht? Ja - ich lese im Geist dieser alten Frau, die mich trägt, dass sich viele Dinge verändert haben. Rom gibt es noch, aber im Volk gibt es einige, die sich von ihren alten Göttern abgewendet haben.«
    »Daran sind die Christen schuld!«, rief die Priesterin. »Sie sagen, dass es nur einen Gott gibt…«
    Ich spürte, dass sich mein Bewusstsein erneut verschob, wie es noch tiefer drang und sich ausdehnte, als die Wesenheit, die mich überschattet hatte, selbst von einem Strahlen überwältigt wurde, das jegliches sterbliche Bewusstsein auslöschte.
    »Die Göttliche Quelle ist in der Tat eine einzelne Gottheit von überragender Macht, die den Himmel und die Sonne und die Sterne und den Mond erschaffen hat, die fruchtbare Erde und die Wellen der Meere. Das ist der Eine, der allein war und ewig sein wird.«
    »Soll das heißen, dass die Christen Recht haben?« Die Stimme der Priesterin wurde schrill vor Entsetzen. »Und dass ihr Gott der Einzige ist?«
    »Kein Sterblicher kann die höchste Gottheit fassen, es sei denn, im äußersten Taumel der Verzückung. Du, der du im Fleische lebst, siehst mit den Augen der Welt nur eine Sache vor dir, und deshalb siehst du Gott in vielen Gestalten, so wie Bilder von den mannigfaltigen Facetten eines Juwels auf unterschiedliche Weise reflektiert werden. Jeder Facette habt ihr eine Gestalt und einen Namen gegeben - Apollon oder Ammon, Kybele oder Hekate, die einst in diesem Schrein das Orakel gesprochen hat. Jahwe der Juden wacht nur über ein Volk, und dieser Jesus segnet alle, die ihn anrufen. Sie wollen den Einen fassen, doch ihre menschlichen Beschränkungen erlauben ihnen nur, ein einzelnes Gesicht zu sehen, das sie das Ganze nennen. Verstehst du?«
    In jenem Augenblick begriff ich, was die Sibylle aus mir sprach, und ich betete, dass ich diese Worte behalten könnte.
    »Dann irren sie sich!«, rief die Priesterin.
    »Sie tun gut daran, Christus zu dienen, wenn sie seinen Lehren wahrhaft folgen, so wie du gut daran tust, dem strahlenden Apoll zu dienen. Sie irren sich nur in ihrer Annahme, es gäbe keine Wahrheit außer der, die sie sehen. Aber ich werde dir etwas sagen - ihre Vorstellung ist mächtig, und ich sehe eine Zeit voraus, in welcher der Tempel deines Apollons zu einer Ruine zerfallen ist, seine Verehrung ebenso vergessen wie die der Göttin, die hier angebetet wurde, ehe er kam.
    Klagt, o ihr hohen Götter, und trauert, ihr Bewohner des Olymp, denn es kommt die Zeit, da eure Altäre abgerissen und eure Tempel unter dem Kreuz daniederliegen werden.«
    Die Vision weitete sich zu einem Mosaik von Bildern aus, als ich sah, wie das Kreuz über würdige, prächtige Gebäude erhoben wurde oder auf den Umhängen von Männern prangte, die Kranke pflegten oder mit blutigen Schwertern übereinander herfielen. Die Eingebung setzte sich fort, während die Sibylle Worte aussprach, die ich nicht mehr vernahm, und die Priesterin ihr weinend zu Füßen kauerte.
    Schließlich ließen die Bilder nach, und ich erkannte, dass die Sibylle ihren Blick auf Cunoarda gerichtet hatte.
    »Und du, mein Kind - willst du denn nichts fragen?«
    Cunoarda schaute scheu zur Seite und richtete dann einen Blick voller Hoffnung auf. Sie war wie umgewandelt. »Wie lange werde ich Sklavin bleiben?«
    »Wenn deine Herrin frei ist, dann wirst auch du freigelassen, und ein fernes Land wird euch beiden Zuflucht gewähren. Doch bevor das eintritt, hat sie viel Kummer zu erleiden und muss eine große Reise

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