Die Priesterin von Avalon
zu sein schien: »Der Sohn der Sonne, größer noch als sein Vater! Ein Lichtkreuz brennt am Himmel! Alles verändert sich! Das Schicksal ist in der Waage, der Sohn wird seinen Glanz über die ganze Welt verbreiten!« Mit einem letzten glockenhellen Aufschrei warf die Seherin die Arme hoch. Dabei fiel die Seherschale vom Tisch und schlitterte über den Boden. Heron schwankte heftig, und ich sprang mit Aelia gerade rechtzeitig hinzu, um sie aufzufangen.
Neben dem edlen Steinwerk von Avalon erschienen die aus Lehm und Flechtwerk bestehenden Hütten der Mönche auf Inis Witrin ungeschlacht und schäbig. Ich zog mir den Schleier tief in die Stirn, um den Halbmond zu verbergen, als wir den Abhang hinaufgingen, und Con, der junge Druide, der mich begleiten sollte, reichte mir seinen Arm. Fast sechs Wochen waren seit dem Orakel vergangen, und Beltane stand kurz bevor. Nach der üblichen Debatte über die Bedeutung der Prophezeiungen hatte Arganax einige seiner jungen Männer in die Mendip-Berge geschickt, um nachzuprüfen, ob sie einen Römer fänden, auf den Herons Beschreibung zutraf. Die Antwort hatte auf sich warten lassen.
»Du musst mich mit ihnen reden lassen. Diese heiligen Männer dürfen nicht mit einer Frau sprechen«, sagte mein Begleiter leise. Die Mönche erlaubten uns, die wenigen Pferde, die zu Avalon gehörten, auf ihren Weiden grasen zu lassen. Als Gegenleistung lieferten wir ihnen Heilkräuter. Ich fragte mich, was sie wohl glaubten, woher wir kämen.
»Was, die glauben doch nicht etwa, ich wollte sie zur Unkeuschheit verführen?«, schnaubte ich verächtlich. »Ich werde mich als alte Frau verkleiden müssen, wenn wir den Römer treffen. Das kann ich ebenso gut jetzt schon ausprobieren.« Mein Vater hatte dafür gesorgt, dass seine Kinder gut Latein lernten - das war einer der Gründe, warum man mich ausgewählt hatte, den Römer nach Avalon zu führen.
An einer Wegbiegung erblickte ich die runde Kirche, den niedrigeren Wandelgang, der einen zentralen Turm stützte, dessen Strohdach golden in der Sonne schimmerte. Con zeigte mir eine Bank neben dem Allerheiligsten, wo ich warten konnte, während er fortging, um die Pferde zu holen. Es war erstaunlich friedlich hier. Ich lauschte den sanften Klängen des eintönigen Gesangs, der aus dem Innern drang, und sah dem unsteten Flug eines Schmetterlings über dem Rasen zu.
Der Gesang in der Kirche schwoll plötzlich an, und ich wandte mich um. Als ich wieder zurückschaute, hatte sich der Schmetterling auf der ausgestreckten Hand eines alten Mannes niedergelassen. Ich blinzelte verwundert und fragte mich, wie er hierher gekommen war, ohne dass ich es bemerkt hatte, denn die Kirche war ringsum gut einzusehen. Die anderen Brüder, die ich gesehen hatte, trugen grobe, aus ungefärbter Schafwolle gewebte Tuniken, die Kleidung des Alten indes leuchtete schneeweiß, und der Bart, der seine Brust bedeckte, war so weiß wie Wolle.
»Der Segen des Allerhöchsten sei mit dir, meine Schwester«, sagte er leise. »Und ich danke IHM dafür, dass ich noch einmal mit dir reden darf.«
»Wie meinst du das?«, stammelte ich. »Ich habe dich noch nie gesehen!«
»Ah…« Er seufzte. »Du erinnerst dich nicht…«
»Woran?« Trotzig schlug ich den Schleier zurück. »Du bist Anhänger von Christos, und ich bin Priesterin von Avalon!« Er nickte. »Das stimmt - heute. Aber in vergangenen Zeiten gehörten wir beide demselben Orden an in dem Land, das jetzt im Meer versunken ist. Leben und Länder vergehen, aber das Licht des Geistes strahlt immerdar.«
Erschrocken öffnete ich den Mund. Wie konnte dieser Mönch etwas über die Mysterien wissen? »Was…«, stotterte ich, um Fassung bemüht. »Wer bist du?«
»Hier an dieser Stelle heiße ich Joseph. Aber du solltest nicht nach meinem Namen fragen, sondern nach deinem.«
»Ich heiße Eilan«, antwortete ich rasch, »und Helena…«
»Oder Domaris…«, erwiderte er, und ich blinzelte, denn dieser Name kam mir merkwürdig vertraut vor. »Wenn du nicht weißt, wer du bist, wie kannst du dann deinen Weg finden?«
»Ich weiß, wohin ich gehe…« Es fiel mir schwer, meinen Auftrag nicht herauszuposaunen, doch es schien, als kenne der alte Mann ihn ohnehin.
Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Dein Geist weiß es, doch ich fürchte, der Körper, in dem du jetzt steckst, muss einen steinigen Weg gehen, ehe du verstehst. Bedenke: Das Symbol bedeutet nichts. Die Wirklichkeit hinter allen Symbolen ist alles.« Ich war weit
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