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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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eingebrochen, die Latten morsch zerfallen. Junge Sträucher wucherten am heiligen Ort, Pilze sprossen, tote Äste bedeckten die Opferstelle. Aber die Geister waren noch da. Die vier Eichen standen stark und unnahbar, verbanden die Erde mit dem Himmel.
    Tief neigte Uvelan sein Haupt vor jedem der Bäume, bevor er sich näherte. Er betrat den heiligen Platz dort, wo eine der beiden Pforten gestanden hatte. »Ihr Geister«, rief er, »die ihr in den Bäumen lebt: Tragt meine Worte zu Svarogh, fleht ihn für mich an, daß er mich hören möge.« Es war seine Stimme, der alte, kräftige Ton. Friede floß durch seinen Körper, hinter der Stirn nahm er seinen Anfang und erfüllte ihn bis zu den Fersen und bis in die Hände.
    »O Gott des Himmels«, sagte er schließlich, »der du der Erde befiehlst, Heilkräuter hervorzubringen und Korn, um uns zu ernähren! Du hältst die Fische am Zügel, die die Erdscheibe tragen; wenn du es willst, regen sie sich und die Erde bebt. Nach deiner Entscheidung spenden sie unsfeuchte oder trockene Jahre. Du Höchster der Götter, Verteiler des Reichtums, warum hast du Nevopor stark gemacht und mich vernichtet?«
    Zu beiden Seiten hob Uvelan die Arme in die Höhe, reckte die Hände zum Himmel empor und legte den Kopf in den Nacken. »Gott des himmlischen Feuers, aus dem alles entstanden ist, sie haben dir einen Sohn angedichtet, während ich schlief. Ich hätte dich verteidigt, hätte verhindert, daß dein Name verboten wird. Du hast uns die Gesetze gegeben und das Feuer. Du bist der strahlende Himmel. Du bist das Licht. Ach, Himmelsschmied, Geber allen Lebens, warum hast du mich von dir geschleudert? Habe ich dir nicht gedient, wie du es wünschtest?«
    Langsam senkte Uvelan die Arme wieder. »Was ist geschehen? Den heiligen Ort läßt du verrotten.« Er sah auf die modernden, über den Boden verteilten Zaunlatten. »Was ist mit den reich verzierten Pforten? Was mit der Unendlichkeit der Eichen, in denen die mächtigen Geister wohnen? Wolltest du sie nicht mehr schützen? So oft haben an diesem heiligen Ort Verfolgte Zuflucht gesucht, und ich habe sie ihnen gewährt, deinen starken Arm hinter mir. So höre nun mich, deinen Gesandten: Auch ich will Zuflucht nehmen bei dir. Höre mein Klagen, schaffe mir Gerechtigkeit! Laß nicht meinen Feind über mich triumphieren, der das Volk mit Lügen verwirrt hat.«
    Uvelan berührte das Stirnband mit den Fingerspitzen, hockte sich nieder, berührte den Boden, und lief dann voran zu den Eichen. Jede von ihnen streifte er mit seiner Hand. »Ihr Geister, seht mich, den Heimgekehrten. Ich werde nicht mehr lange leben. Svaroghs Strafe ist hart. Er hat mich alt werden lassen, ohne daß ich spürte, wie ein einziger Tag vergeht. Laßt meine letzten Monate nicht kraftlos verstreichen, helft mir, meinem Gegner zu zeigen, woher die wahre Macht rührt. Ihr kennt ihn, Svarogh, den Lichtbringer, dem das Sonnenauge gehorcht und der jedes Leben geschaffen hat. Bittet ihn für mich, daß er mich wiederzu seinem Gesandten machen möge, daß er mich stärkt und mich mit seinem unschlagbaren Arm stützt.«
    Wie von einem großen Gewicht gezogen, sank Uvelan auf die Knie. Seine Lippen bebten, der Atem zitterte. »Zeige deine Stärke, Svarogh! Zeige mir, was ich tun soll. Zeige mir, daß du mich nicht von dir gestoßen hast, ich flehe dich an.«
    All die toten Äste, die den Hain entstellten – er durfte sie nicht forträumen, auch wenn es ihn bis zur Atemnot drängte, auch wenn er sich mit aller Macht danach sehnte, die alte Ordnung wiederherzustellen. »Im Hain darf nichts gebrochen werden, nichts gejagt, nichts gepflückt«, murmelte Uvelan. Das hatte er Tag für Tag an der verzierten Pforte wiederholt, hatte es jedem Besucher eingeschärft. »Hebt auch totes Holz nicht auf. Begegnet den Geistern mit Ehrfurcht, beugt euch vor den ewigen Eichen, die ihre Wohnstätte sind.«
    Der letzte, zu dem er diese Worte gesagt hatte, war Nevopor gewesen.
    Damals hatte Svaroghs Gnade den Hain in goldenes Sonnenlicht gebadet. Das Volk war gekommen wie an jedem zweiten Tag der Woche; sie kamen, daß er über sie Gericht hielt. Vorbei an der Schlange der Wartenden war ein junger Mann in den Hain eingetreten. Fieber schüttelte ihn so sehr, daß ihn eine Frau stützen mußte, seine Mutter wohl. Mit ihrer Hilfe breitete er ein gutes Leinenhemd vor den Eichen auf dem Boden aus – dort, wo Uvelan jetzt kniete, ja, dort war es gewesen. Uvelan tastete über den Boden. Er meinte für einen

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