Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
die den Körper stützten. Löcher klafften in den Stämmen: Münder und Augen. Neben diesen mächtigen Gestalten nahmen sich die übrigen Bäume des Waldes wie spindeldürre Kinder aus.
Planken zäunten die Lichtung ein, viele schief oder gänzlich umgesunken, gebrochen, zerfallen, von Moos und Pilzenbewuchert. Ein Kreis aus hölzernen Wachen, von denen die meisten in tiefer Nacht eingenickt sein mußten.
Etwas Wildes haftete diesem Platz an, etwas Urgewaltiges. Ächzen erscholl aus den alten Baumkronen. Der Blätterkörper regte sich, rauschte, lispelte. In der Luft lag der Geruch von Eicheln, die, auf dem Boden verstreut, über lange Zeit Sonne und Regen ausgesetzt gewesen waren.
Unter den vier Baumriesen erblickte Alena den Priester, Uvelan. Sein Gesicht und die Brust, die durch das zerlöcherte Hemd schimmerte, waren sauber, als hätte ihn die Gegenwart der Eichen gereinigt. Aus den Krallen waren Finger geworden, mit feinen, taubenweißen Nägeln. Der Schlangenarmreif blitzte am Handgelenk, der Griff des Messers im Gürtel funkelte wie dunkles Gold. Bart und Haare waren nicht mehr grün und verfilzt; sie umflossen sein Gesicht wie ein tropfensprühender, silberner Bach. Und obwohl er nicht lächelte, strahlten die klaren, steingrauen Augen tiefe Zufriedenheit aus.
Links und rechts von Alena knieten die Männer nieder, legten die Waffen ins Laub. Sie neigten die Köpfe, bis das Kinn die Brust berührte.
Mit gemessenen Schritten trat Uvelan an die Überreste des Zaunes heran. »Möchtet ihr den Hain besuchen?«
Er sprach mit solcher Ruhe – sah er nicht, daß sie geknebelt und gefesselt war?
»Wir haben nichts, das wir Svarogh opfern können«, sagte Vymer, ohne den Kopf zu heben.
»Die Geister sind gut gestimmt. Sie werden euch vor Svarogh mit Dankesworten vertreten. Ihr seid im Hain ihre Gäste.«
Zögerlich erhoben sich die Linonen. Erst als Uvelan sie mit ausholender Geste auf den Hügel einlud, lösten sie sich von ihrem Platz und gingen auf den Priester zu. Vymer zog Alena mit sich.
Wo Uvelan stand, lagen zwei Pfosten am Boden, übermannslang, mit reichen Schnitzereien versehen.
»Willkommen. Seit langer Zeit seid ihr die ersten Besucher.« Jedem der Linonen legte Uvelan für einen Augenblick die Hand auf den Rücken. Als Alena, am Strick gezogen, hinter Vymer den Hügel betrat, erschrak sie über die warme Berührung. Erkannte er sie nicht? Uvelans Hand sendete warme Wellen zu ihren Schultern und bis zum Gesäß hinunter.
»Im Hain darf nichts gebrochen werden, nichts gejagt, nichts gepflückt«, sagte der Priester. »Hebt auch totes Holz nicht auf. Begegnet den Geistern mit Ehrfurcht, beugt euch vor den ewigen Eichen, die ihre Wohnstätte sind.«
Er zog das bronzene Messer aus dem Gürtel und zerschnitt Alenas Fessel. Dann spürte sie seine Hände am Hinterkopf, und das Knebeltuch löste sich. Der dunkle Fleck, den ihr Speichel darauf hinterlassen hatte, war ihr unangenehm. Schnell zog sie es aus dem Gesicht und verbarg es in ihrer Faust.
»Wir dachten,« sagte Vymer, »sie könnte dir nützlich sein. Es ist Nevopors Tochter.«
»Ich weiß.«
»Es … ist viel zerfallen.« Vymer sah um sich, und er hielt den Kopf gebeugt, als wäre es seine Schuld.
»Das ist unwichtig. Ein neuer Zaun kann gebaut werden. Gut ist, daß die Geister ihre Wohnung nicht verlassen haben.«
Furchtsam blickten die Linonen zu den Eichen hinauf. Auch Alena legte den Kopf in den Nacken, blinzelte hoch zum Blättermeer. In solchen Bäumen
mußten
Geister wohnen. Sicher standen die Eichen seit Anbeginn der Erde an diesem Platz.
»Warum seid ihr hier?«
Vymer räusperte sich verlegen. »Geehrter Priester, ich bin Vymer. Svarogh hat mir zweimal das Leben gerettet. Einmal, als mich diese Bestie von einem Hund anfiel, ich ein kleiner Bengel ohne viel Kraft – der Hund reichte mirbis zur Brust und hätte mich zerfleischt, wäre der Himmelsschmied nicht dazwischengefahren mit einem feurigen Holzscheit. So habe ich nur zwei Finger verloren. Das zweite Mal bin ich in deinen Hain gestolpert. Redarier waren mir auf den Fersen. Du hättest mich zu Recht ausliefern können, ich hatte sie beraubt und war als Linone euer Feind. Aber du hast mich in den Schutz des heiligen Ortes aufgenommen, obwohl sie dir zornig die Waffen entgegenreckten.«
»Ich erkenne dich. Du hast die Krieger angeführt, die mich in Kamenica aus den Händen der Zweriner befreiten.«
»Leider nicht unverletzt. Die Klinge, die dich traf, muß vergiftet
Weitere Kostenlose Bücher